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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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sie sich über ihn beugte, ihm ein Messer an die Kehle hielt – Addio mio bello, addio .

    »Ich habe ja nicht gesagt, dass sie die Gefährliche ist, nur dass ich Gefahr sehe. Vielleicht bist du es auch, der ihr gefährlich wird. Oder ein anderer Mensch wird euch beiden gefährlich.«
    »Sollte ich ihr also lieber aus dem Weg gehen?«, fragte Treslove.
    Sie erschauerte, wie nur Wahrsager erschauern. »Du kannst ihr nicht aus dem Weg gehen.«
    Die Zigeunerin war schön, zumindest in Tresloves Augen. Ausgezehrt, eine tragische Gestalt, mit goldenen Ohrreifen und dem leisen Hauch, wie er fand, eines West-Midlands-Akzents. Wäre der nicht gewesen wäre, hätte er sich in sie verliebt.
     
    Sie konnte ihm nichts sagen, was er nicht bereits wusste. Irgendwer, irgendwas erwartete ihn.
    Weit mehr als nur ein Missgeschick.
    Er war für Katastrophen und Trauer wie geschaffen und doch immer woanders, wenn das Schicksal seinen Lauf nahm. Einmal stürzte ein Baum um und erschlug jemanden, der nur einen Schritt hinter ihm ging. Treslove hörte einen Schrei und fragte sich, ob er von ihm selbst kam. Er verpasste einen Amokläufer in der Londoner Untergrundbahn nur um einen einzigen Waggon. Er wurde nicht einmal von der Polizei verhört. Und ein Mädchen, das er mit der hoffnungslosen Sehnsucht eines Schuljungen liebte – die Tochter von Freunden seines Vaters, ein Engel mit einer Haut, so schön wie spätsommerliche Rosenblüten, und mit immerzu feucht glänzenden Augen –, starb vierzehnjährig an Leukämie, während sich Treslove in Barcelona die Zukunft vorhersagen ließ. Nicht einmal für ihre letzten Stunden oder zu ihrem Begräbnis rief ihn die Familie zurück. Man wollte ihm die Ferien nicht verderben, hieß es, dabei fürchtete man in Wahrheit, dass er die Fassung verlor. Wer Treslove kannte, überlegte es sich lieber zweimal, ihn an ein Totenbett zu bitten oder zu einer Beerdigung einzuladen.

    Also hatte er noch sein ganzes Leben zu verlieren. Mit neunundvierzig Jahren war er in guter körperlicher Verfassung, hatte den letzten blauen Fleck gehabt, als er sich in Kinderjahren am Knie seiner Mutter stieß, und war auch noch nicht Witwer geworden. Soweit er wusste, war noch keine Frau gestorben, die er geliebt oder mit der er Sex gehabt hatte – allerdings hatten es nur wenige so lang mit ihm ausgehalten, dass ihr Sterben ein bewegendes Finale für etwas hätte sein können, das sich im Nachhinein eine große Affäre nennen ließe. Die unerfüllte Erwartung tragischer Ereignisse verlieh ihm jedenfalls ein ungewöhnlich jugendliches Äußeres, wie man es sonst eigentlich nur von Menschen kennt, die zum wahren Glauben zurückgefunden haben.
    2
    Es war ein warmer Spätsommerabend, hoch am Himmel ein launischer Mond, und Treslove war auf dem Heimweg von einem melancholischen Abendessen mit zwei langjährigen Freunden, der eine in seinem Alter, der andere deutlich älter, beide jedoch seit Kurzem verwitwet. Den Gefahren der Straße zum Trotz hatte er beschlossen, durch diese ihm vertraute Gegend Londons zu spazieren, um der Trauer des Abends noch ein wenig nachzuhängen, ehe er mit dem Taxi nach Hause fahren wollte.
    Mit dem Taxi, nicht mit der U-Bahn, obwohl es von seinem Haus bis zur Station nur hundert Meter waren. Ein Mann wie Treslove, der sich so sehr vor dem fürchtete, was ihm über der Erde widerfahren könnte, würde sich wohl kaum unter die Erde wagen. Schon gar nicht nach jener Beinahe-Katastrophe mit dem Amokläufer.
    »Wie unsagbar traurig«, murmelte er halblaut vor sich hin. Er meinte den Tod der Frauen seiner Freunde, aber auch den
Tod der Frauen schlechthin. Und er dachte an die Männer, die allein zurückblieben, ihn selbst eingeschlossen. Es ist schrecklich, eine geliebte Frau zu verlieren, doch ist es mindestens ebenso schlimm, keine Frau zu haben, die man in die Arme nehmen und an sich drücken kann, ehe die Tragödie über einen hereinbricht …
    »Was hat das Leben sonst für einen Sinn?«, fragte er sich, denn er war jemand, der nur schlecht allein zurechtkam.
    Er ging an der BBC vorbei, einer Institution, für die er einst gearbeitet und idealistische Hoffnungen gehegt hatte, die er jetzt aber auf geradezu unvernünftige Weise hasste. Wäre sein Hass vernünftig gewesen, hätte er darauf geachtet, dass ihn sein Weg nicht mehr so oft an diesem Gebäude vorbeiführte. Kraftlos schimpfte er leise vor sich hin: »Kackhaufen.«
    Ein Fluch aus Kindergartenzeiten.
    Aber das war es ja, was er an der BBC

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