Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
Treslove verwundert. »Meinst du Beachy Head, den Kreidefelsen?«
»Sag ich doch. Einmal sind wir sogar hingefahren. Eine Art Mutprobe. Schöne Gegend übrigens. Großartig aufragende Felsen, schwebende Möwen und verwelkte Blumensträuße am Stacheldrahtzaun – einer sogar noch mit Preisschild dran. Es gibt dort eine Plakette mit einem Zitat aus einem Psalm, in dem es heißt, Gott sei größer als die brausenden Wasserwogen im Meer, außerdem sind da jede Menge kleiner, ins Gras gepflanzter Holzkreuze. Wahrscheinlich haben wir wegen der Holzkreuze unsere Meinung geändert.«
Treslove hatte keine Ahnung, wovon Libor sprach. Stacheldrahtzaun? War er mit Malkie zu einem Selbstmordversuch nach Treblinka gefahren?
Aber Möwen? … Und Kreuze? … Weiß der Teufel.
Malkie und Libor hatten sowieso nichts gemacht. Malkie war es dann, die ernstlich erkrankte, aber gemacht hatten sie nicht das Mindeste.
Drei Monate nach ihrem Tod wagte sich Libor tapfer ins Innerste seiner Verzweiflung vor und engagierte einen Lehrer, der nach alten Briefen, Zigaretten und Guinness roch, um sich von ihm die Impromptus beibringen zu lassen, die Malkie gespielt hatte, als wäre Schubert mit ihr im Zimmer (als komponierte er sie im selben Augenblick), und Libor spielte sie immer wieder, auf der Pianoablage vier seiner Lieblingsfotos von Malkie. Seine Muse, seine Mentorin, seine Gefährtin, seine Richterin. Auf einem der Bilder sah sie unfassbar jung aus, beugte sich
lachend über den Pier in Brighton, die Sonne im Gesicht. Eine andere Aufnahme zeigte sie im Hochzeitskleid. Auf allen Fotos hatte sie nur Augen für Libor.
Julian Treslove weinte schamlos, sobald die Musik einsetzte. Er war fest davon überzeugt, dass ihn, wäre er mit Malkie verheiratet gewesen, ihre Schönheit jeden Morgen zum Weinen gebracht hätte, sooft er sie an seiner Seite im Bett liegen sah. Und er konnte sich nicht ausmalen, was er getan hätte, wäre er eines Tages aufgewacht und sie hätte nicht mehr neben ihm gelegen … Sich vom Bitchy ’Ead gestürzt – warum nicht?
Wie lebt man weiter, wenn man weiß, dass man den Menschen, den man liebt, nie mehr – nie, niemals mehr – wiedersehen wird? Wie überlebt man mit diesem Wissen auch nur eine einzige Stunde, eine Minute, eine Sekunde? Wie bleibt man bei Verstand?
Das wollte er Libor fragen. »Wie war die erste Nacht des Alleinseins, Libor? Hast du geschlafen? Hast du seither überhaupt geschlafen? Oder ist dir nur der Schlaf geblieben?«
Aber er konnte nicht. Vielleicht wollte er die Antwort nicht hören.
Einmal sagte Libor allerdings: »Gerade wenn man glaubt, man hätte die Trauer überwunden, begreift man, dass einem die Einsamkeit bleibt.«
Treslove versuchte, sich eine Einsamkeit vorzustellen, die größer als die seine war. Gerade wenn man die Einsamkeit überwunden hat, dachte er, begreift man, dass einem die Trauer bleibt.
Nun, er und Libor waren ja auch verschiedene Menschen.
Es schockierte ihn, als Libor ihm ein Geheimnis anvertraute. Zum Ende hin hatten sie sich beschimpft. Mit richtig schlimmen Schimpfworten.
»Du und Malkie?«
»Malkie und ich. Wir gaben uns vulgär. Damit schützten wir uns vor zu viel Pathetik.«
Treslove konnte den Gedanken nicht ertragen. Warum sich vor Pathetik schützen?
Libor und Malkie gehörten derselben Generation wie seine längst verstorbenen Eltern an. Er hatte seine Eltern geliebt, ohne ihnen sonderlich nahegestanden zu haben. Dasselbe hätten sie gewiss von ihm behauptet. Die Armbanduhr, die ihm später am Abend abgenommen werden sollte, war ein Geschenk seiner stets um ihn besorgten Mutter gewesen. »Ein Juwel für meinen Jules«, hatte sie eingravieren lassen, ihn aber ihr Leben lang nie Jules genannt. Das ebenfalls abhandengekommene Gefühl, ordentlich beieinander zu sein, hatte er von seinem Vater geerbt, einem Mann, der sich so gerade hielt, dass er eine gleichsam architektonische Stille um sich verbreitete. An ihm, erinnerte sich Treslove, konnte man ein Lot ausrichten. Dennoch glaubte er nicht, dass seine Eltern der Grund für die Tränen waren, die er in Libors Gesellschaft vergoss. Ihn rührte vielmehr dieser Beweis für die Zerstörbarkeit der Dinge, denn letztlich zahlte man für alles einen Preis, für Glück womöglich einen noch grausameren als für das Gegenteil von Glück.
War es also besser – gemessen am Verlust –, Glück gar nicht erst zu erleben? Besser, ein Leben lang auf das zu warten, was niemals kam, da man dann um weniger
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