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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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hasste: Sie hatte ihn infantilisiert. »Tantchen« wurde der Sender liebevoll von der Nation genannt, nur sind Tantchen zweifelhafte Sympathiegestalten, unzuverlässig und gemein, da sie einem ihre Liebe bloß so lange vorgaukeln, wie sie selbst zu wenig davon abbekommen – und dann machen sie sich aus dem Staub. Treslove war davon überzeugt, dass die BBC ihre Zuhörer abhängig machte, sie in geistlose Unmündigkeit versetzte. Genau wie jene, die für sie arbeiteten. Nur war es für die Angestellten noch schlimmer – durch Eigendünkel und die Aussicht auf Beförderung gefesselt, für eine andere Lebensweise nicht mehr tauglich. Treslove bot dafür das beste Beispiel. Fürs Unglaubliche, nicht für die Beförderung.
    Kräne standen rund um das Gebäude, hoch und unstet wie der Mond. Ein angemessenes Schicksal, dachte er: Wie am Anfang, so am Ende – ein BBC-Kran zermanscht mir das Gehirn. Dieser Kackhaufen . Er hörte seinen Schädel platzen, so wie in einem Katastrophenfilm die Erde aufreißt. Aber das Leben war ja ein Katastrophenfilm, in dem schöne Frauen starben, eine nach
der anderen. Er ging schneller. Ein Baum tauchte vor ihm auf. Er wich ihm aus und wäre fast gegen ein umgestürztes Baustellenschild gelaufen. »Achtung.« Seine Schienbeine schmerzten bei dem Gedanken an den Zusammenprall. Heute Abend erbebte selbst seine Seele vor Besorgnis.
    Es passiert nie, wenn man damit rechnet, sagte er sich. Es schlägt immer von unerwarteter Seite zu. Woraufhin sich ein dunkler Schatten aus einem Hauseingang löste und zu einem Angreifer wurde, der ihn am Nacken packte, sein Gesicht an ein Schaufenster presste, ihm sagte, er solle nicht schreien und sich nicht wehren, um ihm dann Uhr, Brieftasche, Füller und Handy abzunehmen.
    Erst als er zu zittern auf hörte und sich in der Lage sah, seine Taschen abzutasten, und feststellte, dass sie leer waren, wusste er mit Gewissheit, dass das, was passiert war, tatsächlich passiert war.
    Keine Brieftasche, kein Handy.
    In seiner Jackentasche kein Füller.
    An seinem Handgelenk keine Armbanduhr.
    Und kein Kampfeswille, kein Selbsterhaltungstrieb, kein amour de soi oder wie immer man jenen Klebstoff nennt, der einen Menschen zusammenhält und ihn lehrt, im Hier und Jetzt zu leben.
    Aber wann hatte er den je gehabt?
     
    An der Universität war er ein Moduler gewesen, ein Stückwerker, der kein bestimmtes Fach studierte, sondern diverse Komponenten unterschiedlicher geisteswissenschaftlicher Disziplinen wie Legosteine zusammenfügte. Archäologie, Konkrete Poesie, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Theater- und Festivalmanagement, Vergleichende Religionswissenschaft, Bühnendesign, ein Seminar zur russischen Kurzgeschichte sowie Politik und Geschlechter politik. Am Ende seiner Studien – dabei
war nie ganz klar, wann und ob er tatsächlich je fertig werden würde, da kein Mensch an der Universität mit Gewissheit sagen konnte, wie viele Module ein Ganzes ergaben – besaß Treslove einen so unspezifischen Universitätsabschluss, dass er damit nichts weiter anfangen konnte, als ein Praktikum bei der BBC anzunehmen. Und die BBC wusste ihrerseits mit Treslove nichts Besseres anzufangen, als ihn ins nächtliche Kulturprogramm von Radio Three abzuschieben.
    Er kam sich vor wie ein verkümmerter Strauch in einem Regenwald voller Baumriesen. Um ihn herum stiegen seine Mitpraktikanten innerhalb weniger Wochen nach Arbeitsbeginn in verblüffende Höhen auf. Sie stiegen auf, weil es keine andere Richtung gab, in die man sich entwickeln konnte, falls man nicht Treslove hieß, der blieb, wo er war, da niemand wusste, dass es ihn gab. Sie wurden Programmchef, Direktor, Chefeinkäufer, senderübergreifender Geschäftsführer, gar Generaldirektor. Niemand kündigte, niemand wurde gefeuert. Die BBC stand loyaler zu ihren Leuten als manch eine Mafia-Familie. Folglich wusste jeder über jeden Bescheid – nur Treslove nicht, der niemanden kannte –, und jeder sprach dieselbe Sprache – nur Treslove nicht, dessen Gerede von Trauer und Verlust niemand verstand.
    »Jetzt sei doch froh!«, sagten die Leute, wenn sie ihn in der Kantine trafen, dabei hätte er am liebsten geweint. Was für eine traurige Aufforderung: »Sei doch froh!« Damit räumte man nicht bloß ein, wie unwahrscheinlich es war, dass er jemals froh sein würde, man bekannte auch, dass es nur wenig Grund zum Frohsein gab, wenn Frohsein das Einzige war, worauf man sich freuen konnte.
    Durch ein Schreiben mit

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