Die Finsteren
unmöglich begreifen ließ, wie es dazu kam. Menschen, die jene obskure Schwarze Kunst beherrschten, derer es bedurfte, um ein Wesen wie seinesgleichen zu binden, galten als selten. Fast ausgestorben. Und doch hatte einer von ihnen genau das erreicht. Ihn zuerst heraufbeschworen und danach in diese tiefe Finsternis verbannt.
Das Wesen in der Dunkelheit sehnte sich danach, frei zu sein. Fernab vom Moder und Verfall dieses Ortes, versetzt in die Lage, unter den lebenden Kreaturen der Welt umherzustreifen. Seine Unfähigkeit, es geschehen zu machen, entfachte abwechselnd Regungen von Verzweiflung und Zorn.
Ein Mensch hatte ihm das angetan.
Ein Mensch!
Das Wesen brüllte ein letztes Mal vor Wut und brachte die Luft zum Vibrieren.
Dann begann es, in den Schlaf zurückzugleiten. Vielleicht würde es sich mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte lang nicht mehr rühren. Und das war gut. Denn es wusste, eines Tages geschah etwas, um den Bann zu brechen, der es hier festhielt.
Jemand würde kommen. Irgendein armer, neugieriger Narr von einem Menschen.
Es war ebenso unvermeidlich wie der vorbestimmte Aufstieg und die Herrschaft seines dunklen Meisters.
Draußen, dachte es.
Eines Tages werde ich ... DRAUSSEN sein .
2
Nachts kommen die Finsteren heraus .
So lautet das ominöse Motto, das die meisten Bewohner der Trabantenstadt Wheaton Hills in Ransom, Tennessee vermutlich gar nicht kennen. Die Worte sind in Versorgungsmasten, Straßenschilder, Steine und Äste geritzt. Die wenigen, die das wiederholte Auftauchen des Satzes bemerken, ignorieren seine mysteriöse Bedeutung weitgehend. Jene, die vereinzelt innehalten, um über die Worte nachzudenken, schreiben sie letztlich dem harmlosen Leichtsinn von Teenagern zu. Ein verschwommener Ausdruck von jugendlicher Lebensangst. Nichts, was es wert ist, darüber nachzugrübeln.
Schließlich gibt es bedeutendere Probleme, über die man sich den Kopf zerbrechen kann.
Ransom nimmt eine kleine Ecke in einer überwiegend ruhigen ländlichen Umgebung ein und ist eine Stadt, die kurz vor einem grundlegenden Wandel steht. Neue Unternehmen von respektabler Größe haben sich hier angesiedelt und ihr einen Zustrom von Familien der oberen Mittelschicht aus größeren Städten beschert. Viele der Neuankömmlinge lassen sich im kürzlich aus dem Boden gestampften Ortsteil Wheaton Hills nieder. Wie nicht anders zu erwarten, langweilt das sterile Drumherum ihre Kinder. Es gibt hier wenig zu unternehmen. Keine Kinos. Keine Einkaufszentren. Die meisten passen sich an und entdecken neue Möglichkeiten, Spaß zu haben und sich die Zeit zu vertreiben. Das sind die normalen Jugendlichen. Typisch amerikanisch. Popper. Sportskanonen. Streber. Neben diesen Stereotypen gibt es den schlichten Durchschnittsteenager.
Und dann sind da noch die Finsteren.
So nennen sie sich. Es ist die Bezeichnung, die sie sich selbst gegeben haben.
Nachts kommen die Finsteren heraus .
Sie passen nicht so leicht in eine der üblichen Schubladen. Sie gehören nicht zu den coolen Typen, aber die coolen Typen wissen, dass sie sich vor ihnen besser in Acht nehmen. Angenommen, du bist einer dieser coolen Typen. Der Star der Footballmannschaft oder die Cheerleaderin. Jeder vergöttert dich. Du bekommst so gut wie immer, was du willst, und alles geht ganz einfach. Als einer der Privilegierten hältst du dich für etwas Besonderes, für einen König oder eine Königin, und die anderen Schüler sind deine Untertanen. Die Unbeliebten sind Bauern und werden entsprechend behandelt, wie es der Adel im Mittelalter getan hat. Sie existieren nur zu deiner gelegentlichen Belustigung – es macht dir Spaß, sie hin und wieder zu verarschen.
Nachts kommen die Finsteren heraus .
Du lebst in Wheaton Hills.
Allerdings leben sie auch hier. Den Erwachsenen fällt der Slogan vielleicht nicht auf, aber du selbst hast ihn gesehen und erinnerst dich daran. Du kennst sie. Du redest nicht mit ihnen, aber du kennst sie. Du besuchst mit einigen von ihnen dieselben Kurse. Sie sitzen immer in der hinteren Reihe und tragen dunkle Sonnenbrillen. Die Lehrer haben sich inzwischen damit abgefunden. Merkwürdigerweise siehst du sie dort öfter als in der Nachbarschaft. Manchmal siehst du sie auch, wenn du zu Hause bist, aber nicht tagsüber. Nur gelegentlich, wenn du nachts nicht schlafen kannst und aufstehst, um aus dem Schlafzimmerfenster zu schauen. Du stehst da und beobachtest die menschenleere Straße. Alles ist völlig still, wie es in einer Kleinstadt
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