Die Finsternis
Kammer.
Sie zeigte auf eine kleine Luke, von der aus man auf den Anlegering sehen konnte. »Es gibt sogar ein Fenster.«
Die ganze Zeit über hatte sie mir erzählt, dass das Leben auf der Handelsstation gar nicht mal so schlecht war. Dass sie gern an den Wochenenden auf dem Fischmarkt arbeitete und Besorgungen für die Händler erledigte. Ich dachte, sie hätte das Ganze ein wenig beschönigt, damit sich meine Eltern keine Sorgen machten. Jetzt begriff ich, dass ich mich in ihr getäuscht hatte. Dass ich ganz und gar falsch gelegen hatte. Sie wohnte gern in einer Abstellkammer. Sie arbeitete gern für die Fischverkäufer in der glühend heißen Sonne. Vermutlich war sie sogar gern von den kaufwütigen Horden umgeben. Die vielen Menschen störten sie nicht. Nicht einmal, wenn sie feilschten und schrien und stanken wie heiße, tote Fische. Sie würde nie zurückkommen und wieder bei uns wohnen. Nicht einmal, wenn sie ihre Angst vor dem Schwimmen im Meer überwunden hätte.
Sie betrachtete mich, um die Gedanken zu erraten, die mir gerade durch den Kopf gingen. Das beherrschte sie gut. Sie konnte mit einer verblüffenden Genauigkeit in den Menschen lesen wie in einem offenen Buch. Eine Gabe, die ich nicht besaß.
»Dann hast du wohl alles, was du brauchst«, sagte ich.
»Nicht alles.«
Sie hielt inne, doch ich sagte nichts. Was gab es auch noch zu sagen?
»Ich vermisse es, Teil deiner Familie zu sein.«
Ich nickte nur, weil ich meiner Stimme nicht traute. Sie hatte nicht gesagt, dass sie es vermisste, mit mir zusammen zu sein. »Du wirst immer Teil unserer Familie sein«, murmelte ich schließlich. »Egal, wo du bist.«
Sie schenkte mir ein breites und warmes Lächeln, doch ich fühlte mich dadurch nur noch schlechter.
»Na dann.« Ich wandte mich zum Gehen. »Ich muss jetzt los.«
»Ty, warte!«, rief sie mir nach.
Doch ich war schon zur Tür hinaus. Das Meer hatte seinen Schein verloren, was mir ganz passend schien. Am Anlegering holte sie mich ein.
Genau in dem Moment kletterte Jibby an einer der Leitern vom Promenadendeck herunter. »Oh, schön«, sagte er, als er Gemma entdeckte. »Ich dachte, du wärst mit John und Carolyn schon nach Hause gefahren.«
»Nein«, sagte sie, ohne jedoch zu erwähnen, dass sie jetzt dauerhaft hier wohnte.
»Ich habe mich gerade gefragt …« Er sah mich schuldbewusst an.
»Du kannst sie fragen, was du willst«, sagte ich zu ihm. »Es geht mich nichts an.«
In seinem Gesicht machte sich Erleichterung breit, während ihre Miene finster wurde.
»Möchtest du deinen Bruder sehen?«, platzte Jibby heraus.
Unter allen Fragen, die ich von ihm erwartete hatte – einen weiteren Heiratsantrag inbegriffen –, war diese nicht dabei gewesen. Gemma wirkte genauso überrascht, wie ich es war.
»Ich habe zwei Tickets für den Boxkampf in Rip Tide morgen Nacht.« Er hielt einen Flyer aus synthetischem Papier in die Höhe. »Hab ich bei einem Pokerspiel gewonnen. Und dann habe ich gesehen, wer kämpft.«
»Richard?«, fragte sie erstaunt.
»Ja, also Shade«, erwiderte Jibby. Das war der Name, den Gemmas Bruder benutzte, seit er ein Gesetzloser und der Anführer der berüchtigten Seablite-Gang war.
»Woher willst du wissen, dass es wirklich Shade ist?«, fragte ich.
Jibby winkte uns zu einem der Lichter, die über uns am Rand des Promenadendecks angebracht waren. »Es gibt niemand anders, der so aussieht«, sagte er und reichte Gemma das Blatt.
Sie stellte sich ins Licht, betrachtete den Flyer eingehend und lächelte. Dann zeigte sie mir das Bild der beiden Boxer. Einer der abgebildeten Männer war ihr Bruder, darin bestand kein Zweifel. Jedenfalls war es seine dunkelhäutige und tätowierte Erscheinung. Was der Flyer nicht verriet, war, dass Shade eine Dunkle Gabe besaß, die es ihm ermöglichte, die Farbe seiner Haut zu verändern wie ein Tintenfisch.
»Was ist Rip Tide?«, fragte Gemma, während sie die Ankündigung las.
»Eine Stadt südlich von hier vor der Küste«, sagte Jibby. »Ist vergleichbar mit unserer Handelsstation, nur dass sie von Surfs bevölkert wird.«
»Klingt großartig«, sagte sie in Gedanken versunken, während ihr Blick auf Shade gerichtet war. »Kann ich den Flyer behalten?«
Die große Sehnsucht nach ihrem Bruder hatte mir Sorgen bereitet. Sie hatte seit Monaten nichts von ihm gehört. Um genau zu sein, seit er mit seiner Gang abgehauen war, nachdem er ein paar von uns – Gemma eingeschlossen – in der unteren Station zurückgelassen
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