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Die Flamme erlischt

Die Flamme erlischt

Titel: Die Flamme erlischt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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Cavis sein könnten.«
    »Kirak Rotstahl Cavis«, wiederholte der alte Mann in rauhem Singsang. »Ich kenne ihn. Wenn es je einen Geist gab, dann ist er einer. Sein spezielles Schicksal ist es, der toten Kavalarpoesie nachzujagen. Nachts streift er klagend durch die Gegend und rezitiert Verse aus den Trauergesängen von Jamis-Löwe Taal oder einige der besseren Sonette von Erik Hoch-Eisenjade Devlin. Bei Vollmond singt er braithsche Schlachtgesänge, und manchmal stimmt er das alte Klagelied der Kannibalen aus dem Tiefkohlenhort an. Wie wahr, er ist ein Geist, und ein Mitleid erweckender obendrein. Wenn er eines seiner Opfer besonders quälen will, liest er ein Gedicht aus seiner eigenen Feder vor. Ich versichere Ihnen, wenn Sie einmal Kirak Rotstahl vorlesen gehört haben, werden Sie um Kettengerassel beten.«
    »Tatsächlich?« bemerkte Dirk. »Ich verstehe nicht, warum es so geisterhaft ist, ein Dichter zu sein.«
    »Kirak Rotstahl schreibt altkavalarische Gedichte«, sagte der Mann mit strafendem Blick. »Das reicht schon aus. Es ist eine sterbende Sprache.
    Wer wird also lesen, was er schreibt? In seinem eigenen Festhalt wachsen die Jungen mit Standard, dem Sternengeplapper, heran. Vielleicht übersetzt man sein Werk, aber eigentlich lohnt sich die Mühe kaum, wissen Sie. In der Übersetzung reimt sich nichts, und das Versmaß schleppt sich voran wie ein Spottmensch mit gebrochenem Rückgrat. Nichts davon taugt in der Übersetzung. Die rasselnden Kadenzen Galen Glühsteins, die süßen Hymnen Laaris-Blind Hoch-Kenns, all jene trübseligen kleinen Shanagates, die das Eisen-und-Feuer rühmen, selbst die Lieder der eyn-kethi – das alles zählt kaum als Dichtung. Alles ist tot, jeder einzelne Satz, nur in Kirak Rotstahl lebt es weiter. Ja, der Mann ist ein Geist. Weshalb kam er wohl sonst nach Worlorn? Das ist eine Welt für Geister.« Der alte Mann zog sich am Bart und sah Dirk schelmisch an. »Sie sind der Geist eines Touristen, würde ich sagen. Zweifellos haben Sie sich auf der Suche nach einem Badezimmer verlaufen und wandern seither ohne Ziel herum.«
    »Nein«, sagte Dirk, »keineswegs. Ich suchte nach etwas anderem.« Lächelnd zeigte er sein Flüsterjuwel.
    Der alte Mann sah es sich genau an. Während der kalte Wind sein Cape zum Flattern brachte, kniff er die harten blauen Augen zusammen. »Was immer es sein mag, wahrscheinlich ist es tot«, sagte er. Tief unten, wo sich das funkelnde Band des Flusses durch das Freigelände wand, erklang ein Laut: das schwache, weit entfernte Heulen eines Banshee. Dirks Kopf fuhr herum, und er versuchte herauszufinden, woher das Geräusch gekommen war. Er sah nichts, nichts – nur sich selbst und den anderen Mann, wie sie auf der Mauer standen, der Wind an ihnen zerrte und das Höllenauge über ihnen am zwielichtigen Himmel stand. Kein Banshee. Die Zeit für Banshees war vorbei. Sie waren alle ausgerottet. »Tot?« sagte Dirk.
    »Worlorn ist voller toter Dinge und voller Geister.« Er murmelte etwas auf altkavalarisch, das Dirk nicht verstand und schickte sich an, langsam fortzugehen.
    Dirk sah ihm dabei zu. Er starrte auf den fernen Horizont, den eine Bank blaugrauer Wolken verdeckte. Irgendwo dort hinten lag der Raumhafen, und – er war sich ganz sicher – Bretan Braith auf der Lauer. »Ach Jenny«, sagte er, zum Flüsterjuwel sprechend. Er holte aus und warf es in die Luft, wie ein Junge einen Stein schleudert, und es flog weit hinaus, bevor es zu fallen begann. Einen Augenblick lang dachte er an Gwen und Jaan und ganz kurz auch an Garse.
    Dann wandte er sich wieder dem alten Mann zu und rief der entschwindenden Gestalt nach: »Geist! Warten Sie. Tun Sie mir einen Gefallen. Von Geist zu Geist! Ein Geist dem anderen!« Der alte Mann hielt inne.

Epilog
     
     
    Der Platz inmitten des Freigeländes war flach und grasbewachsen und nicht weit vom Raumhafen entfernt. Damals, zu Zeiten des Festivals, wurden hier Wettkämpfe ausgetragen, und Athleten von elf der vierzehn Außenwelten hatten um Kronen aus kristallinem Eisen gestritten.
    Dirk und Kirak Rotstahl waren lange vor der abgemachten Zeit am Ort und warteten.
    Als die Stunde heranrückte, begann Dirk sich Sorgen zu machen. Das war nicht nötig. Der Gleiter mit der zähnefletschenden Wolfskopf-Verkleidung erschien pünktlich am Himmel. Mit kreischenden Pulstriebwerken flog er einmal in geringer Höhe über sie hinweg, um sicherzugehen, daß beide anwesend waren, und landete dann in geringer Entfernung.
    Über das

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