Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Flamme erlischt

Die Flamme erlischt

Titel: Die Flamme erlischt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
Vom Netzwerk:
schrecklicher Wichtigkeit zu sein.
    Dann begann er seine Fänger zu beobachten. Das war das interessanteste Spiel von allen und diente genausogut wie jedes andere dazu, die Zeit zu vertreiben. Als er sie musterte, fiel ihm allerhand auf. Seit sie ihn zum Dach eskortiert hatten, war zwischen den beiden Kavalaren kaum ein Wort gefallen. Chell, der Lange, saß auf der niedrigen Mauer, die den Landeplatz einfaßte, kaum einen Meter von Dirk entfernt. Als Dirk sich ihn genauer ansah, bemerkte er, daß er schon einen recht alten Mann vor sich hatte. Die Ähnlichkeit mit Lorimaar Hoch-Braith war sehr trügerisch. Obgleich sich Chell wie ein jüngerer Mann kleidete und verhielt, war er mindestens zwanzig Jahre älter als Lorimaar, schätzte Dirk. Wie er so dasaß, lasteten die Jahre schwer auf ihm. Ein beträchtlicher Bauch wölbte sich über seinen mattglänzenden Netz-Stahlgürtel, und die Falten in seinem wettergegerbten Gesicht waren tief. Chell hatte die Hände auf seine Knie gestützt, und Dirk sah blaue Venen und graurosa Flecken auf ihrem Rücken. Die sinnlos lange Warterei auf die Rückkehr derer von Eisenjade ging auch an ihm nicht spurlos vorbei, er zeigte mehr als nur Langeweile. Seine Wangen schienen mehr und mehr einzufallen, und seine breiten Schultern hatte er achtlos sinken lassen. Insgesamt bot er ein trauriges Bild. Einmal bewegte er sich seufzend. Er nahm die Hände von den Knien, hakte die Finger ineinander und streckte sich. Dabei sah Dirk seine Armspangen. Am rechten Arm war Eisen-und-Glühstein, ein Gegenstück zu jener vom einäugigen Bretan so stolz zur Schau gestellten Manschette. Links befand sich das Silber. Die Jade fehlte allerdings. Früher war sie vorhanden gewesen, aber die Steine waren aus ihren Fassungen gebrochen worden, und jetzt war der Silberarmreif durchlöchert.
    Während der müde alte Chell – plötzlich fiel es Dirk schwer, in ihm die bedrohliche, kriegerische Gestalt zu sehen, die er noch vor wenigen Minuten gewesen war – darauf wartete, daß etwas passierte, schritt Bretan (oder Bretan Braith, wie er genannt werden wollte) unruhig auf und ab. Er steckte voll ungezügelter Energie und schien in dieser Hinsicht schlimmer zu sein als jeder, den Dirk jemals gekannt hatte, schlimmer sogar noch als seine Jenny, die damals ein recht unruhiger Geist gewesen war. Die Hände tief in den Taschen seiner kurzen weißen Jacke vergraben, ging er ruhelos auf dem Dach umher. Alle paar Augenblicke starrte er ungeduldig nach oben, als wollte er sich bei dem Zwielichthimmel beschweren, daß er ihm Jaan Vikary vorenthielt. Ein seltsames Paar, dachte Dirk. Bretan Braith war so jung, wie Chell alt war – sicherlich nicht älter als Garse Janacek und wahrscheinlich jünger als Gwen, Jaan oder er selbst. Wie kam es, daß er teyn eines um so viele Jahre älteren Kavalaren war? Er war auch kein ›hoch‹, hatte demnach Braith keine betheyn geschenkt. Sein linker Arm, der mit feinem roten Haar bedeckt war, das dann und wann aufleuchtete, wenn er günstig zur Sonne stand, trug keinen Reif aus Jade-und-Silber. Sein Gesicht, sein merkwürdiges Halbgesicht, war über alle Maßen häßlich, aber als der Tag langsam schwand und die Abenddämmerung eintrat, hatte er sich daran gewöhnt.
    Immer, wenn Bretan Braith in die eine Richtung schritt, sah er völlig normal aus: ein gertenschlanker Jüngling voll nervöser Energie, die er eng im Zaum hielt, so eng, daß Bretan innerlich zu brutzeln schien. Von dieser Seite wirkte sein Gesicht ungezeichnet und fast heiter, kurze schwarze Locken ringelten sich um sein Ohr, und einige Strähnen fielen ihm auf die Schulter, aber es war nicht die entfernteste Spur eines Bartes zu entdecken. Selbst die Braue über seinem großen grünen Auge war nur eine schwache Linie. Er sah beinahe unschuldig aus.
    Dann schritt er bis zum Rand des Daches, wandte sich um und kam den gleichen Weg zurück. Jetzt war alles ganz anders. Die linke Gesichtshälfte sah unmenschlich aus, eine Landschaft aus zerstörten Ebenen und verbogenen Winkeln, wie sie ein Gesicht einfach nicht haben durfte. Das Fleisch war ein halbes Dutzend mal genäht, an anderen Stellen glänzte es dicklich wie Emaille. Auf dieser Seite hatte Bretan überhaupt keine Haare, auch kein Ohr – nur ein Loch –, und die linke Seite seiner Nase war ein kleines Dreieck aus fleischfarbenem Kunststoff. Sein Mund war ein lippenloser Schlitz, der sich dauernd bewegte – was am schlimmsten von allem war. Ein Pulsieren, ein

Weitere Kostenlose Bücher