Die Fliege Und Die Ewigkeit
Spiralblock ausgerissen:
Lieber Maertens. Ruf mich an. Birthe Das tut er umgehend, und sie antwortet, als hätte sie dagesessen und gewartet, mit dem Telefon auf dem Schoß. Was sie zu sagen hat, ist einfach.
»Verzeih mir, Maertens, aber wir können uns nicht mehr treffen.«
Er antwortet nicht.
»Wir können das nicht weitermachen ... uns so zu lieben. Das ist sündhaft.«
»Sündhaft?«
»Ja.«
»Hast du jemand anderes kennen gelernt?«
»Nein ... ja.«
»Ich verstehe.«
»Nein, Maertens, du verstehst nicht ... das ist nichts, was du verstehen könntest. Es ist nur so, dass es nicht richtig ist, dass wir so miteinander verkehren.«
»Wie heißt er?«
»Wer?«
»Der Mann. Du hast gesagt, du hättest einen Mann kennen gelernt.«
»Nein. Doch, aber wir haben keine Beziehung. Nicht in dieser Form ... er heißt Wilmer. Er ist Pfarrer der Gemeinde.«
»Der Gemeinde? Was für einer Gemeinde? Es ist doch wohl nicht ...« Er sucht nach dem Namen und findet ihn. »Die Kirche des Reinen Lebens?«
»Doch. Woher weißt du das?«
»Das spielt keine Rolle. Ja, ich verstehe, dann hören wir also mit dem Bumsen auf.«
»Maertens!«
»Entschuldige.«
»Können wir nicht weiterhin Freunde bleiben?«
»Selbstverständlich.«
»Danke, Maertens. Wenn du wüsstest, wie es mir davor gegraut hat. Dir das zu sagen, meine ich.«
»Keine Ursache.«
»Sicher, dass wir Freunde bleiben?«
»Natürlich ... Birthe, ich habe einiges zu tun. Viel Glück und pass auf dich auf!«
»Maertens ...«
»Ja?«
»Ich mag dich, Maertens.«
Ein paar Sekunden bleibt er stehen, den Hörer in der Hand. Dann legt er auf, nimmt die Jacke und geht wieder hinaus. Es ist dunkel geworden, dennoch läuft er ein ganzes Stück am Fluss entlang, zum Hafen hin. Hinten im Fischereihafen schlüpft er in eine Bar, die er noch nie zuvor besucht hat, überhaupt nie bemerkt hat. Es ist ein menschenleerer, düsterer Ort, zumindest um diese Tageszeit. Er lässt sich an einem Tisch nieder, an dem bereits ein magerer Mann mit glänzenden Augen sitzt, zwei Schnapsgläser vor sich. Der Tisch ist schmutzig und der Geruch nach altem Fett penetrant.
»Was weißt du über das Schweigen?«, fragt Maertens nach einer Weile.
»Nichts«, antwortet der Mann. »Ich habe eine Alte und fünf Kinder, deshalb sitze ich hier. Jetzt muss ich los.«
Er kippt den letzten Schnaps hinunter und lässt Maertens allein zurück. Dieser bleibt bis zur Sperrstunde sitzen, und als er später nach Hause geht, sucht er nach irgendwas, was noch offen hat, findet aber nichts.
Warum ist alles immer so eilig?, denkt er immer wieder während dieser Stunden. Liegt es daran, weil ich nur noch so wenig Zeit habe? Was ist es, das eine Wirklichkeit konstituiert?
In derselben Nacht beginnt er Tagebuch zu schreiben. Er setzt sich mit einem der dicken Schreibhefte, die eigentlich für »Die Buddenbrooks« gedacht waren, an den Küchentisch, stellt ein kleines Glas Genever vor sich, und dann fängt er an:
7. März
Ich heiße Maertens, und ich beginne dieses Tagebuch um drei Uhr morgens. Ich bin vierundfünfzig Jahre alt. In letzter Zeit hat sich mein Leben in einem Maße verändert, dass ich keine Kontrolle mehr darüber habe.
Die Veränderungen haben sich bisher folgendermaßen manifestiert:
1.Ich erhalte Telefonanrufe von einem Unbekannten. Bis jetzt drei Stück. Ich weiß nicht, wer da anruft oder was der Mensch will, denn er schweigt, aber ich erahne einen Keim aus lang vergangener Zeit.
2.Die Frau, mit der ich eine langjährige Beziehung hatte, hat mich wegen Pastor Wilmer verlassen.
3.Ich habe seit geraumer Zeit eine merkwürdige Hautveränderung auf der Brust. Vielleicht ist es Krebs, und in dem Fall habe ich kaum mehr als zwei Jahre zu leben.
4.Die Schreibarbeit, die für viele Jahre den Kern meines Lebens bildete, interessiert mich nicht mehr.
5.Ich schlafe nachts schlecht und spüre eine zunehmende Unruhe.
6.Gegen meinen guten Freund Bernard habe ich inzwischen fünf Schachpartien nacheinander verloren (obwohl zwei davon nach meiner Lieblingsvariante von Grünefelt liefen), etwas, was noch nie vorgekommen ist.
Ich räume ein, dass alle diese Symptome vielleicht nicht in die gleiche Richtung zeigen, aber ich weiß, dass demnächst etwas Entscheidendes eintreffen wird, obwohl ich eigentlich keinerlei Veränderungen wünsche. Möglicherweise bin ich dabei, verrückt zu werden. Ich habe angefangen dieses Tagebuch zu schreiben, um dem zu
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