Die Fliege Und Die Ewigkeit
Schwerpunkt seines Lebens zu schätzen, ihn zu schützen und seine Bedeutung auf verschiedene Art und Weise anzuerkennen.
Und er redete nicht darüber. Von der ersten Stunde an war ihm klar, dass dieses Schreiben seine eigene Sache war und dass niemand in dieses Heiligtum hineingelassen werden durfte. Nicht eine Seele. Schon der Gedanke, diese Sache mit jemandem wie Bernard zu zerreden, konnte ihn auf die Idee bringen, lieber die Freundschaft für immer zu beenden.
Dennoch ist so etwas geschehen. Einmal. Dass er ertappt wurde.
Es war nicht Bernard, sondern Birthe.
Eines Morgens nach einer Nacht vor gut einem Jahr war sie früh aufgewacht und aus irgendeinem Grund ins Arbeitszimmer hinuntergegangen. Als Maertens sie fand, saß sie am Schreibtisch und hatte dreißig Seiten von »Madame Bovary« gelesen.
Ihm war ganz kalt geworden. Er hatte den Impuls unterdrückt, hinzulaufen und sie vom Stuhl zu zerren. Und auch den, sie umzubringen, indem er ihr die Tintenfeder ins Auge stach. Er blieb einfach nur stehen, ohne ein Glied zu rühren. Sie hatte ihn nicht bemerkt, aber als er schließlich vorsichtig einen Schritt ins Zimmer tat, schaute sie auf.
Ihr Gesicht erhellte sich.
»Maertens, warum hast du mir nichts davon erzählt? Das ist ja fantastisch!«
Er schluckte.
»Ich habe ja gar nicht gewusst, dass du so schreiben kannst!«
Er spürte, wie er rot wurde, aber gleichzeitig auch, wie ihn plötzlich ein heißes und angenehmes Gefühl überspülte – es war zwar schnell überstanden, aber dennoch trat er zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Das musst du herausgeben, wenn es fertig ist! Du hast mehr geschrieben, nicht wahr?«
Vorsichtig nahm er ihr das Buch aus der Hand und lotste sie aus dem Zimmer. Erklärte ihr, dass das überhaupt nichts Besonderes war, nur ein Zeitvertreib, dem er sich ab und zu in seiner Freizeit widmete. Natürlich, vielleicht sollte er einmal überlegen, Kontakt mit einem Verleger aufzunehmen ... wenn er das Ganze jemals irgendwann fertig bekäme.
»Aber ich finde, du solltest ihren Namen ändern. Bovary klingt nicht schön. Ist das nicht eine Seifenfabrik?«
Später war Birthe hin und wieder mit Fragen gekommen, aber jedes Mal war er ihr mit Gleichgültigkeit begegnet. Er hoffte, dass die ganze Sache bei ihr bald in Vergessenheit geraten würde. Wobei man sich bei Birthe nie sicher sein konnte. Keine Ahnung, wie viel sie in diesen Morgenstunden in Erfahrung gebracht hatte. Aber eine Sache war offensichtlich – in den Augen seiner vorübergehenden Ehefrau hieß der Schöpfer von »Madame Bovary« J. M. Maertens und nicht anders.
Das Tintenfass ist gefüllt. Er weist den Kammerherrn, diese Plaudertasche, hinaus. Der König ist allein auf der Bühne, und endlich, endlich haben Reue und Gewissensbisse ihre Klauen in ihn geschlagen:
O meine Tat ist faul, sie stinkt zum Himmel,
sie trägt den ersten, ältesten der Flüche,nicht.
Mord eines Bruders. – Beten kann ich nicht.
In diesem Augenblick klingelt das Telefon.
In den ersten Bruchteilen einer Sekunde will er es ignorieren, aber dann weiß er es plötzlich.
Die Einsicht, was dieses Gespräch beinhalten wird, überfällt ihn mit unerlaubter Klarheit. Er nimmt die Treppe in drei Sprüngen. Spürt erneut den kurzen Schmerz in der Leiste. In der rechten, immer in der rechten.
Jetzt ändert sich alles, denkt er.
6
B ernard hat von Ursache und Wirkung gesprochen. Vom Flügelschlag eines Schmetterlings in Nepal, der zu einem Orkan über dem amerikanischen Kontinent anwächst, und ähnlichen Phänomenen, von denen er durch das Fernsehen oder irgendeine populärwissenschaftliche Zeitschrift erfahren hat. Maertens hat nichts zu seinen Ausführungen gesagt, denkt aber im Nachhinein darüber nach. Wenn das, was einmal geschehen ist, niemals geschehen wäre, denkt er, würde er sich dann in ganz anderen Verhältnissen befinden? Oder würde er dennoch hier sitzen? Gibt es mehrere Wege zu einem vorherbestimmten Ziel? Oder zu einem ziemlich ähnlichen Ziel zumindest? Oder eine unendliche Anzahl von Wegen?
Die Antwort darauf findet er nie. Es ist nicht das erste Mal, dass er in dieser Metaphysik herumirrt. Schließlich ahnt er, dass die Fragen hochmütig sind. Das Leben ist banal, im Grunde genommen nichts anderes als banal, beschließt er für sich.
Zwischen dem ersten und dem zweiten Telefonanruf sind dreiundzwanzig Tage vergangen. Das stellt er fest, nachdem er den Hörer aufgelegt
Weitere Kostenlose Bücher