Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
Vom Netzwerk:
und wütend aussah. Als hätte er kostbare Zeit vergeudet und Perlen vor die Säue geworfen.
    Maertens musste außerdem einsehen, dass Langobrini in dieser Hinsicht nicht gänzlich irrte. Denn erst viele Jahre später, als er selbst ernsthaft damit begann, sich mit dem Unterbewussten zu beschäftigen, konnte er voll und ganz verstehen, worum es ging. Zur Gänze abwägen, was sich im Herzen der Dunkelheit verbarg.
    Jedenfalls fuhr Langobrini mit seinem Schreiben fort. Jahr um Jahr konnte Maertens ihn mit einem Buch in der Hand und den Blick in die Ferne gerichtet sehen. Oder am Tisch sitzen und in die zahllosen Wachstuchhefte schreiben. Er war nicht einmal zu stoppen, als die Tintenration zu Ende ging. Unter seiner Pritsche in der Zelle verwahrte Langobrini eine alte Metalldose, in der er seine eigene Tinktur anrührte, Schuhcreme bildete die Basis, die übrigen Zutaten wurden danach ausgewählt, was zu bekommen war ...
     
     
    Luigi Langobrini starb eines Nachts in seiner Zelle in seinem neunundsechzigsten Lebensjahr. Es war gleichzeitig Maertens’ letztes Jahr im Gefängnis. Der kleine Italiener hatte ihm erst vor Kurzem anvertraut, dass er mit einem weiteren Meisterwerk fertig geworden war – »Rot und Schwarz« – und es gab keinen Grund, zu befürchten, er würde seine Tage nicht friedlich beschließen.
    Da keine Angehörigen zu finden waren, wurde Langobrini auf dem Gefängnisfriedhof begraben. Zuvor waren seine sterblichen Überreste zusammen mit seinen hinterlassenen Schriften eingeäschert worden, gemäß seinem letzten Willen, der sich in einer Schublade im Schreibtisch des Gefängniskaplans befunden hatte.
     
     
    Während also Langobrini seine Haftzeit dazu benutzt hatte, Klassiker zu schreiben, kam Maertens aus anderen Gründen dazu. Er nahm diese Beschäftigung erst auf, nachdem er bereits mehrere Jahre in Freiheit war, und vielleicht birgt das eine besondere Bedeutung in sich, etwas, das mit den äußeren und den inneren Mauern zu tun haben mag, tiefgreifender hat Maertens jedoch nie darüber spekuliert. Er hat einfach nicht die Gelegenheit dazu gehabt.
    Während einer freien Weihnachtswoche, da fing er an. Ein unbarmherziger Schneesturm wütete und ließ jegliches Leben in der Stadt zum Stillstand kommen, Birthe lag mit Sodbrennen im Bett, er hatte den »Steppenwolf« aus der Bibliothek mit nach Hause genommen, und als der Sturm und die Woche vorüber waren, da hatte er ihn niedergeschrieben. Er folgte Langobrinis Prinzipien nicht bis auf den Punkt – außerdem war er gezwungen, mit einer Übersetzung als Vorlage zu arbeiten (etwas, was auch später der Fall sein wird, da seine Sprachkenntnisse gering sind und es seiner eigenen zurückhaltenden Muttersprache nicht gelungen ist, besonders viele Werke klassischer Dignität hervorzubringen, zumindest nicht, wenn man sie mit dem üblichen Maß misst), und erlebte vielleicht auch nicht die gleiche sublime Ekstase wie sein Lehrmeister.
    Trotzdem begriff er schnell, was sich hinter diesem Schreiben verbarg. Und dass es ihn nicht so schnell wieder loslassen würde.
    Denn es ging darum, die Reisetasche des Ichs zu lüften. Das Martyrium des Individuums hinter sich zu lassen und die Grenze hin zur Welt zu überschreiten, hin zu etwas anderem, etwas Privatem, aber privat nur als Werkzeug, als Träger von etwas ... Höherem? Ja, als er plötzlich begriff, dass er eine neue Instanz des alten existenziellen Problems gefunden hatte, das eine so schicksalsschwere Bedeutung in seinem Leben ausmachte ... da konnte er ein Lachen nicht länger zurückhalten.
    Er lachte aus vollem Halse da unten in seinem Keller, und er spürte eine so große Befriedigung darüber, dass er diese Methode gefunden hatte, sein Leben im Griff zu behalten, dass er sich am gleichen Abend, als sein erstes Werk fertig auf dem Tisch lag, mit Bier und einer Flasche Genever, die er seit Jahren im Schrank stehen gehabt hatte, einen ordentlichen Rausch antrank.
    Den Winter und Frühling über schrieb er außerdem »Candide« und »Seymores Tochter«, bevor er die Geschwindigkeit ein wenig drosselte. Er lernte in etwas ruhigerem Tempo zu arbeiten und sich zwischen den Meisterwerken auszuruhen. Außerdem sorgte er für eine rituellere Schreibsituation, kaufte sich Federn, Tinte und Hefte en gros und neutralisierte die Einrichtung seines Arbeitszimmers, so dass es problemlos mit welchem historischen Milieu auch immer in Übereinstimmung gebracht werden konnte.
    Außerdem begann er diesen neuen

Weitere Kostenlose Bücher