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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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hat. Er zählt die Kästchen auf dem Kalender rückwärts. Es ist eine angenehm konkrete Beschäftigung, die Kästchen zu zählen. Er macht es noch einmal. Es stimmt. Dreiundzwanzig Tage.
    Der dritte und letzte kommt wie der erste an einem Donnerstag. Es ist der siebte März, und seit dem letzten Mal sind achtzehn Tage vergangen. Maertens zählt auch diese Kästchen, und er malt drei rote Punkte in Clauson & Clausons Wandkalender. Er betrachtet sie eine Weile. Denkt, dass er noch einen Punkt wird malen können, bevor es Zeit ist, das Blatt für ein neues Quartal umzublättern, wenn der Bewusste sich ungefähr an das gleiche Zeitintervall hält.
    Obwohl er nicht glaubt, dass es weitere Anrufe geben wird. Im letzten Schweigen lag etwas Neues, etwas, das in den beiden ersten gefehlt hatte. Anfangs war er sich nicht sicher, was genau, aber schließlich begreift er: Es ist die Endgültigkeit. Das Definitive. Etwas ist entschieden worden, ein Beschluss wurde gefasst und ... tja, dann ist nichts mehr zu machen. Er weiß nicht, wie er darauf gekommen ist, aber plötzlich sind diese Gedanken da. Glasklar und gleichzeitig äußerst zerbrechlich – wie ein Schneekristall oder der Ton einer Querflöte. Angst, die sich schließlich legt, denkt er. Als bekäme man eine Haut übergestreift und erstarrte in Resignation. Derjenige, der einmal resigniert hat, hält auch in Zukunft still. Das gilt wohl noch immer.
    Noch etwas anderes stellt er bei diesem dritten Mal fest. Den Rhythmus eines Atems, wie ihm scheint. Langsame, regelmäßige Bewegungen, wie Wogen oder Wellen dort in dem großen Schweigen. Nicht hörbar, gewiss nicht, nur vernehmbar. Während eines kurzen Augenblicks meint er außerdem zu spüren, dass etwas gesagt werden soll, dass dieser andere zu reden gedenkt, aber es kommt kein Wort, und die Gelegenheit verrinnt.
    Doch in einem ist er sich sicher. Es wird weitergehen. Auch wenn dies der letzte Anruf war, so ist es auf gewisse Weise nicht abgeschlossen, das, was hier vor sich geht.
    Was immer es ist und was immer es bedeuten mag. Das, was geschieht, das geschieht, denkt er. Was einen Anfang hat, das muss auch ein Ende haben, nichts ist gewisser. Eine Fortsetzung und einen Schluss.
    Er geht in die Küche und zündet sich eine Zigarette an. Schiebt zwei Finger unters Hemd und tastet über den empfindlichen Fleck auf der Brust. In den letzten Tagen ist er beunruhigend angewachsen, es kommt aber immer noch keine Flüssigkeit heraus. Birthe hat ein paar Mal nach dem Ergebnis der Untersuchung gefragt, aber er hat sich herausgeredet. Hat gesagt, dass man die Tests wiederholen müsse. Dass irgendwas schief gelaufen ist mit der Technik.
    Er schaut aus dem Fenster. Wieder einmal ist ein Frühling im Anmarsch. Das Licht hält sich abends länger, noch sind die Äste der Bäume zwar kahl und schwarz, aber man kann schon deutlich die Veränderung erahnen, die in ihnen vor sich geht. Und deutlich kann man die Veränderung erahnen, die in einem selbst vor sich geht.
     
     
    In erster Linie im Schreiben.
    Es bietet keine Ruhe mehr. Der junge Prinz ist nach England geschickt worden, aber Maertens hat keine Lust, ihn wieder nach Hause zu holen. Er glaubt nicht an diese Geschichte, glaubt nicht, dass sie wirklich trägt. Kann es so sein, dass der Meister selbst vor vierhundert Jahren die gleiche Müdigkeit verspürt hat? Er bildet sich ein, dass es so gewesen sein kann. Beim Schreiben kommt es irgendwann zu einem Tief, an dem die Versuchung, die Feder hinzulegen, überwunden werden muss, das hat er im Laufe der Jahre gelernt. Das trifft jeden. Und jetzt stockt das alte Theaterstück. Es lockt nicht mehr. Überhaupt ist es so, als vermöchte er sein Leben nicht mehr so zu führen, wie er es seit langer Zeit geführt hat. Seit so vielen Jahren.
    Übergangszeit. Zeit der Häutung.
    Er befühlt seine Krebsgeschwulst und erinnert sich an den Titel eines Aufsatzes, den er einmal schrieb, in der Zeit, als sein Leben noch ein Bild besaß: Was konstituiert die Wirklichkeit des Menschen?
    Das kann man sich denken. Er knöpft das Hemd zu und überlegt, welche Standpunkte er wohl heutzutage verteidigen würde, wenn er sich des gleichen Themas annähme. Wer weiß. Er spült den Aschenbecher aus. Öffnet das Fenster, um den Rauch hinauszulassen. Zieht sich die Jacke an und macht sich auf einen langen Spaziergang.
    Als er zwei Stunden später zurückkehrt, findet er einen Zettel unter der Tür. Ein zweimal zusammengefaltetes Papier, aus einem

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