Die Fliege Und Die Ewigkeit
letzten Willen nachzudenken. Warum hatte er mich dazu veranlasst, die Bibliothek durchzugehen? Natürlich musste er einen Grund haben, um mich überhaupt hierher zu bekommen, aber hätte es da nicht etwas Einfacheres gegeben? Warum sollte ich so viel Zeit ausgerechnet damit verbringen?
Ich zündete mir eine Zigarette an und goss mir einen kleinen Cognac aus der Karaffe auf dem Rauchtisch ein.
Gab es vielleicht einen tieferen Grund, der mir entgangen war?
Gab es eine weitere versteckte Botschaft von Tomas Borgmann?
Plötzlich wurde mir ganz kalt. Warum war mir das nicht schon früher eingefallen? Ich schaute auf die Regale.
Und was sollte es sein? Wie viele heimliche Botschaften können in sechstausend Büchern verborgen sein? Mein Gott! Ich kippte den Cognac hinunter.
Stell dich hin und schließ die Augen! hörte ich plötzlich eine innere Stimme. Dreh dich!
Ich gehorchte, schlug mir das Knie an der Tischkante, öffnete aber trotzdem nicht die Augen.
Streck den rechten Arm und Zeigefinger aus! sagte die Stimme.
Ich gehorchte.
Nähere dich vorsichtig der Wand! Lass deinen Finger über einen Buchrücken gleiten! Nimm das Buch heraus! Wiederhole diese Prozedur! Das ist deine Buchwahl für heute!
Ich führte all das aus und öffnete die Augen.
»Phaedra« von Racine.
»Praktisches Handbuch der Rosenzucht« von Gwendolyn und Herbert MacFairlane.
Zweifellos ein kompliziertes Puzzle, dachte ich.
Schlag die Bücher auf und leg den Finger auf zwei Worte! sagte die Stimme.
Ich machte eine letzte Anstrengung.
Eitelkeit.
Kompost.
Ich löschte das Licht und ging in mein Schlafzimmer. Hier sitze ich nun. Meinem Krebs geht es gut. Marlene rumort immer noch herum. Morgen ist der letzte Tag.
Vielleicht.
31
V ergiss nicht, dass es die Handlung ist, die etwas bedeutet, nicht wir!«
Leon zuckt zusammen. Tomas flüstert ihm direkt ins Ohr. Ihn überfällt das sonderbare Gefühl, als greife eine kalte Hand hinein und streiche ihm übers Gehirn. Sie stehen im Dunkeln unter einer Linde, die von dem Regen, der vor einer Weile vorübergezogen ist, immer noch tropft. Auf der anderen Straßenseite, gut dreißig Meter entfernt, erleuchtet eine Straßenlaterne den Hauseingang, aus dem der Professor bald herauskommen soll.
In nur wenigen Minuten. Es ist der gleiche Eingang, an dem Leon Marlene vor acht, nein, vor neun Tagen verlassen hat. Es erscheint unfassbar, wie etwas, das sich in einem anderen Land und zu einer anderen Zeit zugetragen hat. Dort umarmte sie ihn und bat ihn, mit zum Brandenburgischen Konzert zu kommen, und jetzt steht er hier. Plötzlich erscheint ihm sein Gewissen vollkommen rein, ebenso rein wie ...?
... sich ganz natürlich als Teilnehmer in jedem erdenklichen Spiel erheben, unabhängig von jedem Grund und jeder Vermutung, fern einer kurzsichtigen Begründung.
Woher kommen diese Worte? Er sucht fieberhaft sein Gedächtnis ab, doch nichts taucht auf.
»Zehn nach ... Jetzt kommt er!«
Plötzlich steht die schmächtige kleine Gestalt auf dem Bürgersteig. Marschiert mit kräftigem, entschlossenem Schritt davon. Tomas und Leon hocken sich hinter ein geparktes Auto, hören ihn über die Mooserbrücke verschwinden. Sie warten noch eine weitere Minute. Dann gibt Tomas das Zeichen.
»Jetzt!«
Schnell laufen sie um die Ecke und gelangen in die Kloisterlaan. Die enge Gasse wird nur von einer einzigen Laterne erleuchtet, die ihren gelben Schein über den Eingang von St. Maria, der Mädchenschule, wirft. Ansonsten liegt die Straße im Dunkeln. Kein Mensch ist zu sehen.
Tomas zeigt den Weg. Über einen vorspringenden Stein klettern sie auf die Mauerkrone. Sekunden später sind sie auf den Rasen dahinter gesprungen. Einen Moment lang verharren sie vollkommen still, geduckt, und lauschen. Kaum ein Geräusch ist zu hören, nur die Tropfen vom Baum auf das Straßenpflaster, ein Auto, das in weiter Ferne hupt, irgendwo in einem anderen Teil der Stadt. Leon schaut zum Haus hinauf, alle Fenster sind dunkel. Die Luft scheint rein zu sein, und als Tomas ihm einen leichten Stoß mit dem Ellbogen gibt, hasten sie schnell quer über die Rasenfläche.
»Hier!«
Er schiebt die Terrassentür auf, sie quietscht leise. Im nächsten Moment sind sie drinnen. Leon zieht die Türen hinter sich zu.
Dann sind sie an Ort und Stelle. So einfach war das. Tomas schaltet seine Taschenlampe ein. Er lässt den Lichtkegel einige Male durch den Raum kreisen, richtet ihn dann auf den Schreibtisch.
»Da haben wir’s!
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