Die Fliege Und Die Ewigkeit
Wahrscheinlichkeit, dass er seine Meinung ändert?«
»Nicht besonders groß.«
Tomas legt seine Pfeife hin. Er beugt sich über den Tisch vor.
»Das dauert zu lange, Leon! Wir wissen beide die Antwort, nicht wahr? Wenn Professor Hockstein morgen früh immer noch am Leben ist, dann ist es aus mit dir und mir.«
Leon schluckt. Versucht einige der Krähen draußen zu entdecken. Fühlt, dass er ihnen am liebsten seine Gedanken auf den Rücken schnallen würde, damit sie mit ihnen weit, weit wegfliegen – oder abstürzen würden.
»Meinst du, wir können darauf hoffen, dass er in der kommenden Nacht eines natürlichen Todes sterben wird?«
Pause. Leon kippt den Rest des Cognacs hinunter.
»Hörst du mir zu? Du musst mit Ja oder Nein antworten, es ist deine eigene Entscheidung! Ich will dich dabei nicht beeinflussen, aber wir müssen uns die Voraussetzungen klar vor Augen führen. Entscheide dich, Leon! Ich gebe dir zehn Minuten, wir haben nicht so viel Zeit.«
Worauf Tomas aufsteht und auf den Balkon hinausgeht. Die Krähen erheben sich mit Getöse. Er bleibt draußen stehen, die Beine breit auseinander, die Hände aufs Geländer gestützt. Plötzlich fällt Leon dieser Augustabend vor einer Million Jahren ein, an dem sie zum ersten Mal dort draußen saßen, ja, besonders lange sind sie natürlich nicht dort draußen sitzen geblieben ...
Widerstandslos. Gegen alle Vernunft determiniert und programmiert. Jede Reminiszenz an Individualität und Selbstverwirklichung aufgebend, direkt hinein in diesen schicksalsschweren arterhaltenden Auftrag ...
... und lange bleibt er, Tomas, auch diesmal nicht dort. Er kommt wieder herein, setzt sich an den Tisch, die Hände unterm Kinn gefaltet. Doch er sagt nichts, er drängt sich nicht auf. Lässt die vereinbarten Minuten verstreichen, eine nach der anderen, während er Leon mit diesen frenetischen, winzigen Pupillen beobachtet. Leon spürt ein gewaltiges Schweigen zwischen Tomas und sich, ein Schweigen, das er unter Tausenden von Schweigen wiedererkennen würde und in dem jedes Wort eine Tonne wiegen würde.
»Okay«, sagt Leon schließlich, als er es fast nicht mehr aushält. »Wir müssen ihn töten. Wie sollen wir es anfangen?«
Im gleichen Moment, in dem er diese Worte ausspricht, spürt er, wie etwas in seinem Kopf zu pochen beginnt. Als entstünde eine neue Ader, als hätte das Blut plötzlich eine neue Bahn gefunden. Es ist ein Gefühl, das keine Verwunderung bei ihm hervorruft, er stellt einfach fest, dass es so ist, wie es ist, und zwar weil es einfach hat passieren müssen, und dass Spinoza, wenn man alles in Betracht zieht, Recht gehabt hat. Es ist fast komisch, dass Spinoza in diesem Zusammenhang auftaucht ...
Tomas verzieht keine Miene. Es vergeht eine halbe Minute. Dann beginnt er zu reden.
»Das, was wir heute Abend tun müssen«, erklärt er so langsam und nachdrücklich, dass sich die Worte in Leon geradezu hineinbohren, »was wir in ein paar Stunden machen müssen, das ist das Wichtigste in unserem Leben. Die universalste Handlung.«
»Was?«
»Sie wird alles andere bestimmen. Was immer wir auch in Zukunft unternehmen werden. Begreifst du? Wir werden zu Blutsbrüdern. Begreifst du?«
Leon ist sich nicht ganz sicher, worauf Tomas hinaus will, aber vielleicht hat er ja Recht, vielleicht sind es nur die Formulierungen, die ihn verblüffen.
»Wir haben noch ein paar Stunden Zeit, nicht wahr?«, fragt Leon und redet sich gleichzeitig ein, dass das, was geschieht, ihn eigentlich gar nichts angeht, dass er nur die vorgegebenen Sätze aus dem Manuskript ablesen muss, das sich irgendwo in seinem Hinterkopf befindet. »Was hast du gesagt, wann sind sie aus Beuden zurück?«
Tomas macht eine ungenaue Handbewegung. »Um eins ... vielleicht noch später. Meinst du, wir sollen ihn alle beide umbringen?«
Leon versteht die Frage nicht.
»Wollen wir gemeinsam hineinklettern und ihm jeder unsere Axt auf den Kopf schlagen, oder genügt es, wenn einer es tut?«
Ja, natürlich. Jetzt begreift Leon. Warum das Risiko eingehen, dass beide geschnappt werden? Wenn es nicht klappt oder wenn sie es zwar schaffen, den Professor zu töten, dann aber entlarvt werden, ja, dann wäre es natürlich besser, wenn einer von ihnen davonkäme ... das ist einfachste Logik. Leon ist der gleichen Meinung. Er nickt und räuspert sich. Liest die nächste Replik aus dem Manuskript.
»Wie wollen wir vorgehen?«
Tomas antwortet nicht sofort. Sitzt stattdessen still da und
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