Die Fliege Und Die Ewigkeit
haben sich gelöst, und er kann den Rücken wieder strecken. Er holt tief Luft und nickt Tomas zu als Zeichen, dass er jetzt allein zurechtkommt. Tomas lässt ihn los.
Dennoch bleiben sie auf dem gleichen Fleck stehen. Keiner sagt etwas.
Was gibt es noch zu sagen?
Was gibt es noch zu tun?
Wohin sollen sie jetzt gehen?
Das Wasser im Kanal fließt dunkel und langsam dahin. Warum hat Rütter zwei Jahre gewartet? überlegt Leon. Er sieht Tomas von der Seite her an. Dieser hat einen Fuß auf das untere Eisengitter im Geländer gestellt ... so steht er da, leicht vorgebeugt, und starrt auf den Kanal und die dunkle Häuserzeile auf der anderen Seite. Nicht ein einziges der stummen Fensterrechtecke ist erleuchtet. Was geht in Tomas Borgmanns Kopf in diesem Augenblick vor? Warum noch warten? denkt Leon. Hinter ihnen zieht eine Gruppe von Studenten vorbei. Einige von ihnen sind in Commediadell’arte-Kostüme gekleidet, man singt »O Gallia« und lässt eine Flasche kreisen.
Ja, er schaut Tomas von der Seite her an, und plötzlich weiß er, dass es ein vollkommen fremder Mensch ist, der dort steht. Ebenso fremd wie die Dunkelheit und die unebenen Trottoirsteine und die feuchte Luft. Jemand, den er niemals kannte und von dem er nicht das Geringste weiß.
Und so ist es mit allem, denkt er. Von jetzt an wird alles fremd sein. Nichts, was gewesen ist, wird er je wiedererkennen können. Es gibt keinen Zusammenhang mehr.
Er spürt, wie sich wieder das Zwerchfell zusammenzieht, aber da wendet Tomas sich ihm zu. Sein Gesicht ist weiß und verkniffen.
»Warum hast du mich damals geküsst?«, fragt Leon.
»Ich habe dich nie geküsst«, antwortet Tomas. »Komm, wir gehen zu mir nach Hause.«
Leon lässt sich in den Sessel fallen. Fragt sich erneut, ob das tatsächlich der gleiche Sessel ist wie vorher. Fragt sich, ob alle Dinge im Laufe dieses langen Tages zweimal ihre Gestalt geändert haben. Tomas verschwindet in der Küche und kommt mit einem Glas zurück.
»Hier! Trink einen Cognac, dann wird es dir besser gehen!«
Er selbst trinkt nichts. Er stellt sich ans Fenster und fummelt an Tabaksbeutel und Pfeife. Als er die Pfeife entzündet, kann Leon zunächst den Geruch nicht identifizieren, doch kurz darauf gelingt es ihm. Es interessiert ihn nicht. Tomas setzt sich ihm gegenüber und nimmt ein paar tiefe, langgezogene Züge.
»Willst du auch?«
Leon schüttelt den Kopf. Er nippt am Cognac. Tomas sagt eine ganze Weile nichts. Er sitzt nur zurückgelehnt im Sessel und raucht mit geschlossenen Augen. Leon zündet sich eine Zigarette an und wartet, er weiß nicht, worauf. Ein Krähenschwarm lärmt draußen auf dem Balkon. Die Uhr im Langen Pieter schlägt zehn. Er fragt sich, was jetzt kommt, etwas muss doch kommen.
»Ich habe einen Vorschlag.«
Tomas hat jetzt die Augen geöffnet, aber sie sind nichts als schmale Schlitze.
»Ja?«
»Bist du wieder in Ordnung?«
»Ja ... ich denke schon.«
»Du kannst noch mehr Cognac haben, wenn du es brauchst. Es ist wichtig, dass wir jetzt im Vollbesitz unserer Kräfte sind.«
Leon zögert und bleibt sitzen, aber mehr ist von Tomas nicht zu erfahren. Er geht in die Küche und füllt sich einen Daumen breit aus der Flasche auf dem Spültisch ein. In seinem Körper macht sich langsam eine gewisse Wärme breit, das Zittern ist so gut wie verschwunden.
»Es ist jetzt fünf nach zehn«, sagt Tomas, als Leon sich wieder hingesetzt hat. »Was meinst du, was sollen wir tun?«
Leon zuckt verständnislos mit den Schultern. Was gibt es denn noch zu tun? Was spielt es für eine Rolle, wie spät es ist?
»Morgen früh ist alles verloren«, fährt Tomas fort. »Die Frage ist, ob es jetzt bereits verloren ist. Was meinst du? Rein hypothetisch, natürlich.«
»Wovon redest du?«
»Gibt es denn noch Handlungsmöglichkeiten?«
»Was? Nein ...«
Für den Bruchteil einer Sekunde wird eine Tür in Leons Gewissen aufgeschlagen. Schnell schlägt er sie wieder zu. In einem Film oder einem Roman vielleicht, aber nicht ...
»Was denkst du, was müsste passieren, damit wir gerettet werden?«
»Nichts.«
»Nichts? Das kannst du besser, Leon!«
»Wie meinst du das? Nun ja, Hockstein dürfte keinen Bericht abliefern.«
»Richtig. Und unter welchen Prämissen wird Hockstein keinen Bericht abliefern?«
Leon spürt, wie ihn eine Hitzewelle durchfährt. Hastig zieht er an seiner Zigarette, weicht dabei Tomas’ Blick aus. Die Krähen schreien. Er gibt keine Antwort.
»Wie beurteilst du die
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