Die Fliege Und Die Ewigkeit
irgendeinem Provinzkaff im Herbst anfangen zu unterrichten ... sich nach ein paar Semestern beim Seminar in M-boden bewerben ... oder hier in Grothenburg weiterzumachen. Als Doktorand am Philosophicum... hier unterm Efeu bleiben zu dürfen, genau das ist es ...
»Nun?«
»Du ... du hast von moralischen Aspekten gesprochen?«
»Gibt es jemanden in der Gruppe, den wir verdrängen?«
Leon denkt wieder einen Moment lang nach.
»Nein.«
»Siehst du dann nicht die Herausforderung?«
»Welche Herausforderung?«
»Hocksteins Frage! Ich habe seine Herausforderung angenommen.«
Leon schluckt. Er wagt es nicht, sich mehr Zeit zum Nachdenken zu geben, es muss schnell gehen, er spürt es. Er muss sich von Tomas’ Tempo mitreißen lassen, sonst verliert er die Tatkraft, sonst wird er bremsen.
»Wie kommen wir hinein?«
»Durch die Balkontür. Man muss nur hineinspazieren ... er verschließt sie nie.«
Leon hat ein erneutes »Woher weißt du das?« auf den Lippen, kann die Frage aber noch zurückhalten. Er steht auf und läuft im Zimmer herum. Tomas sitzt still da, den Kopf in die Hände gestützt, und folgt ihm mit dem Blick. Er sagt nichts. Wartet. Alle Züge sind gemacht, alles liegt auf dem Tisch. Es gibt nichts mehr zu sagen.
Leon bleibt stehen. Er betrachtet erneut die Bücher auf dem Bett und auf dem Schreibtisch. Einige liegen aufgeschlagen da. Langsam und entschlossen beginnt er sie zuzuklappen, eines nach dem anderen, und stellt sie zurück ins Bücherregal.
»Ja«, sagt er. »Ich bin dabei.«
»Gut«, sagt Tomas. Er schaut auf die Uhr. »Das ging ja schneller als gedacht. Da schaffen wir sogar noch ein Glas!«
30
DAS TAGEBUCH
Freitag
Nach Süden hin, wieder sind wir Richtung Süden gewandert. Das Wetter war schön mit Sonne und kleinen dahintreibenden Wolken, der Wind vom Meer wehte nicht besonders stark. Dieses Mal gingen wir weiter, fast bis an die Grenze, wie Marlene behauptete. Zwölf Kilometer oder mehr.
Langsam gingen wir dort am Meer entlang, und langsam und umständlich berichtete ich weiter. Nicht bis zum Ende, aber fast. Die ganze Zeit hatte sie sich bei mir untergehakt, und ab und zu lehnte sie sich schwer gegen mich, so dass ich das Gefühl hatte, wir gehörten wirklich zusammen. Die wenigen Menschen, die uns begegneten, eine Hand voll Jogger und ein paar Hundebesitzer, müssen geglaubt haben, dass wir ein verheiratetes Paar wären, das gemeinsam im Sonnenschein am Strand entlang wandert.
Auch heute sagte sie nicht viel, doch an eine Sache, die sie sagte, erinnere ich mich.
»Es tut mir leid, dass alles zu spät ist, Leon. Es tut mir wirklich leid.«
Es scheint, als beginne sie den Schluss meines Berichts zu erahnen, und das macht das Ganze nicht gerade leichter. Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist, aber meine Einstellung gegenüber dem Aufenthalt hier hat sich geändert. Alles erscheint so anders im Vergleich zum Sonntag, als ich ankam. Das heißt nicht, dass ich bleiben will, das glaube ich nicht, aber ich spüre absolut kein Verlangen danach abzureisen. Die Spannung zwischen uns scheint nachgelassen zu haben, und als wir am Nachmittag wieder zum Haus zurückkamen, tat sie etwas, für das ich einfach keine Worte finden kann.
»Leg dich aufs Sofa«, sagte sie, »und versprich mir, zwei Stunden lang nichts zu sagen!«
Dann zündete sie eine Kerze an, eine einzige Kerze in der bald einsetzenden Dämmerung, sie legte Musik auf und sank neben mir nieder.
Dieses Mal lehnte sie nicht ihr Bein an meines. Stattdessen nahm sie meinen Kopf und ließ mich auf ihrem Knie ruhen.
Doch davon kann ich einfach nicht schreiben.
Fräulein, soll ich in Eurem Schoße liegen?
Nein, mein Prinz.
Ich meine, den Kopf auf Euren Schoß gelehnt.
Ja, mein Prinz.
Denkt Ihr, ich hätte erbauliche Dinge im Sinne?
Ich denke nichts.
Ein schöner Gedanke, zwischen den Beinen eines
Mädchens zu liegen.
Was ist, mein Prinz?
Nichts.
Später standen wir auf, und sie fragte: »Fährst du morgen ab?«
»Kann sein.«
»Oder übermorgen?«
»Kann sein.«
Nachdem wir gegessen hatten, bat sie mich, ihr zu helfen, zwei Koffer vom Dachboden zu holen. Den restlichen Abend, währenddessen ich mich wie üblich in der Bibliothek aufhielt, war sie damit beschäftigt, sie zu packen.
Zweifellos bereitete sie ihren Aufbruch vor.
Ich selbst merkte bald, dass ich an diesem Abend überhaupt keine Lust dazu hatte, in den Büchern zu blättern. Zum ersten Mal begann ich genauer über seinen
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