Die Fliege Und Die Ewigkeit
Augenblick Schweigen.
»War sonst noch was, mein Guter? Spuck’s gleich aus, dann musst du nicht wieder anrufen.«
Maertens antwortet nicht.
»Thy light alone – gives grace and truth to life’s unquiet dream!«
»Was?«
»Shelley. Hymn to intellectual beauty. Gute Nacht, Maertens! Pass auf dich auf.«
Bevor er ins Bett geht, sucht er die Serviette mit Nadjas Telefonnummer. Er legt sie mitten auf den Küchentisch, so dass er sie nicht übersehen kann. Damit nicht noch mehr Zeit in diesem komplizierten Unternehmen verloren geht.
Anschließend schläft er ein, in einem Chaos sich ihm aufdrängender Bilder.
39
Seht ihr dort nichts?
Gar nichts; doch seh ich alles, was dort ist.
Sie verabreden sich um vier Uhr im Café, nach ihrer Arbeit. Es ist ein klarer Tag, und bereits um halb drei macht Maertens sich auf den Weg. Ihm ist eingefallen, dass er nicht sicher sagen kann, wo es eigentlich liegt. Das Café mit den Dämpfen.
Diese Vorsichtsmaßnahme ist zweifellos begründet. Mehr als eine Stunde irrt er in den nördlichen Stadtteilen herum, zwischen Katarina, Boyarhuus und Kreugerplein, bevor er es findet. Als er es endlich erblickt, sitzt sie bereits dort. Er steht draußen auf dem Bürgersteig und sieht sie durchs Fenster. Etwas verschwommen, aber er geht davon aus, dass sie es ist, da sie auf dem richtigen Platz sitzt.
Es war auch nicht einfach, sich ihr Aussehen ins Gedächtnis zu rufen, aber sobald sie sich begrüßt haben, weiß er natürlich, dass sie es ist. Er hängt die Jacke über die Stuhllehne, legt Feuerzeug und Zigaretten vor sich auf den Tisch und setzt sich hin. Fühlt sich plötzlich verlegen.
»Bin ich zu spät?«
»Nein, nein.«
»Ich hatte einige Mühe, es zu finden.«
»Ich hatte früher Schluss. Das kommt manchmal vor.«
Maertens schaut sich um. Das Lokal ist fast leer. Der Dunst scheint heute feiner zu sein, auf den Fenstern liegt nur eine dünne Haut beschlagenen Dampfes. Es zischt zwar hinter dem Tresen, aber nicht so wie beim letzten Mal. Nicht, wie er es in Erinnerung hat und es sich vorgestellt hat. Das Licht über dem Tisch ist klinisch weiß. Der Boden ist braungrau und schmutzig, unter dem Tisch liegen große, feuchte Wollmäuse.
Ich hätte einen Cognac trinken sollen, denkt er.
»Was arbeitest du?«
»Was mit Fotos ... ich arbeite in einem Fotoladen.«
»Sicher ein guter Job für eine Betrachterin.«
»Auf jeden Fall. Zumindest stört er nicht.«
Die dunkelhäutige Kellnerin mit der roten Haarmähne taucht auf. Maertens zögert.
»Was möchtest du? Wieder Tee?«
»Danke, aber ich glaube, ich möchte etwas Stärkeres.«
Er bestellt zwei Glas Gündlerwein und bietet ihr eine Zigarette an.
»Ich wollte dich gern sehen, um mit dir über das zu reden, was auf dem Friedhof passiert ist.«
»Das war mir klar. Worüber sonst sollten wir reden?«
Natürlich. Er schluckt. Das Ganze gestaltet sich etwas schwierig. Es hat keinen Fluss, die Fäden in die Vergangenheit lassen sich nicht greifen, er kann absolut nicht sagen, ob sie aus freiem Willen gekommen ist oder sich dazu gezwungen gesehen hat.
Gezwungen wovon?, denkt er. Von den Umständen? Von ihm?
Wohl kaum. Oder vielleicht doch, das ist schwer zu entscheiden, wie schon gesagt. Auf jeden Fall scheint sie nicht besonders geneigt zu sein, ihm zu helfen. Das ist natürlich auch nicht anders zu erwarten, alles erscheint so unstrukturiert. Und schlaff. Wie ein Kleidungsstück, das in der Reinigung aus der Form gegangen ist oder so. Er schaut an ihr vorbei und nimmt auf jeden Fall Anlauf.
»Es sind einige Dinge geschehen, die dazu führen, dass ich Klarheit darüber haben muss, was passiert ist ... Dinge, die alles in einem anderen Licht erscheinen lassen, wie man wohl sagen kann.«
»Ja, ich verstehe.«
Und es sieht tatsächlich so aus, als verstünde sie.
»Ich habe einer anderen Person versprochen, so viel wie möglich herauszufinden.«
»Seiner Ehefrau?«
»Woher kannst du das wissen?«
»Ich weiß es eben. Entschuldige.«
Sie senkt den Blick, als hätte sie etwas Unerhörtes gesagt. Maertens schweigt ebenfalls eine Weile. Die Getränke kommen, und vorsichtig nippen beide daran. Er versucht zu verstehen, wen er da vor sich hat.
Nadja. Nadja, die Betrachterin. Die Frau mit dem Strahlenglanz.
Doch jetzt scheint es, als ob die Zeit, diese armselige kleine Zeitspanne, alles aufgegessen hätte. Es gibt nur noch das Hier und Jetzt. Hässliche Wollmäuse, Feuchtigkeit und Schrammen,
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