Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Menschen. Männer, deren Uniformen Hakenkreuze zieren, zerren schreiende Menschen aus ihren Häusern. Sie prügeln auf sie ein. Und es wird… es wird… geschossen. Ein Mann bricht auf der Straße zusammen. Jetzt schreit gellend eine Frau. Feuer! ruft jemand. Diesen Brand haben die Kommunisten gelegt! Es ist die Stunde des Führers. Wenig später sehe ich ihn unten auf der Straße – Adolf Hitler fährt durch die Stadt. Er triumphiert und heult wie ein Wolf. Mein Herz bebt vor Angst.“
„Du bist anscheinend im Jahr 1933“, sagte der Singsang. „Ist es vielleicht der Reichstag, der brennt?“
„Ich kann es nicht sehen“, meinte Minnie suchend. „Ich weiß nicht, was der Reichstag ist. Aber ich sehe die Menschen – und meine Eltern im Getümmel.“
„Verlass diesen Ort“, sagte Ursulas Stimme. „Schreite die Treppe hinunter!“
„Ich kann es nicht“, sagte Minnie verzweifelt. „Mein Jumbo ist aus dem Fenster gefallen. Mein Stofftier, das ich schon immer hatte. Ich muss nach unten, um ihn zu suchen!“
„Er ist immer bei Dir“, verriet ihr die Stimme. „Du kannst beruhigt nach unten schreiten…“
Erst da ließ Minnie den Augenblick los.
Auf der letzten Stufe hielt sie inne, denn der Singsang wollte es so.
„Ich bin jetzt auf Stufe Null“, sagte die alte Dame ruhig. „Es ist alles gut.“
„Wie ist es auf der letzten Stufe?“, fragte sie eine fremde Stimme.
„Warm und weich, alles obskur“, hörte sich Minnie selbst sagen. „Ich bin im Inneren meiner Mutter.“
„Wie sieht das von außen aus?“
„Meine Mama und ihre Mama und deren Mama sitzen in einer Stube und stricken warme Wollsachen, denn bald werde ich auf die Welt kommen“, sagte die alte Dame. „Ich spüre, dass sich alle drei freuen. Ihre Herzen schlagen im gleichen Takt. Poch, poch, pochpochpoch.“
„Welche Jahreszeit siehst Du?“
„Das Ende des Herbstes oder den Beginn des Winters. In diesem Jahr fällt der erste Schnee sehr früh. Schon in einer Woche werde ich da sein!“
„Freust Du Dich auf dieses Leben? Warum kommst Du wieder auf die Erde?“
„Ich freue mich sehr auf dieses Leben“, erwiderte Minnie. „Es wird ein schönes Leben werden, denn ich werde geboren werden, um etwas Wichtiges zu lernen – die Angst vor allem und jedem zu besiegen. In diesem Leben, das in einer Woche beginnt, warten viele Menschen auf mich. Sie werden mich alle lieben. Ich könnte es nicht besser treffen.“
„Angst?“, fragte der Singsang. „Wovor wirst Du Dich so sehr fürchten?“
„Allein zu sein, wenn ich einmal ganz alt bin. Vorher werde ich sehr viele Menschen, die ich geliebt habe, verloren haben. Ich fürchte mich davor, sie am Ende nicht wieder zu finden.“
„Wirst Du diese Angst besiegen?“
„Ja.“
„Dann geh’ jetzt weiter, gemeinsam mit Hans. Fliege durch die schöne Zwischenwelt. Reise weiter ins Innere. Genieße die Farben, die Sphären, die Weite… Bis Du einen riesigen Schrank findest, der sich auftürmt, so groß, so hoch, so unendlich weit, der aufragt vor Dir, der Tausende von Schubladen enthält, der verlockend ist, der alles enthält, was Du bist und sein wirst.“
„Ich stehe bereits vor ihm“, verriet Minnies Stimme. Sie wusste, dass es ihr Schrank des Seins war.
„Flieg jetzt hinauf an diesem großen Schrank, flieg weit in die Höhe, und halte erst an, wenn Du es möchtest. Du musst die richtige Schublade finden. Lasse Dir dabei alle Zeit der Welt. Finde die richtige Schublade. Sie enthält eines Deiner Vorleben, ein Vorleben, das Dir heute helfen wird. Ein Vorleben, das Dir so vieles verrät. Schwebe hinauf, bis Du bereit bist. Dann gib mir ein Zeichen.“
Minnie musterte den Schrank.
Jede Schublade sah anders aus. Sie erblickte gewellte Schubladen, die knallrot waren; sie sah gebogene Schubladen, die verlockend rochen; sie sah große und kleine, winzige und riesige, polierte und stumpfe, glatte und halb zerstörte, verschrumpelte und edle, marmorierte und hölzerne, verschlossene und halb offene, übel riechende und wunderschöne – doch nur eine wollte von ihr geöffnet werden.
Es war eine Schublade, die sich nicht beschreiben ließ. Sie hatte keine Form, keine Kontur, keinen Geruch – und sie war farblos. Sie stand fast offen.
„Ich habe sie gefunden“, flüsterte ihre Stimme.
„Zieh’ sie jetzt auf und blicke hinein“, sagte der Singsang. „Ich sage jetzt ganz schnell Drei-Zwei-Eins … Anschließend öffnest Du Deine Schublade. Dann sagst Du mir direkt, was
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