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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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glaubte, dass sie tief schliefe. Ein anderer Teil hatte mit Frau Demarmels gesprochen, die ihr mit ihrer Singsang-Stimme mehrmals erzählt hatte, dass Minnie auf dem Rücken unter einem Baum läge und eine Baumkrone betrachte. Die alte Dame hatte das Dunkel der Äste gesehen, das Blau des Himmels zwischen den Blättern und einen Specht auf einem Zweig. Zehn Minuten später war ihr Blick Schäfchenwolken gefolgt, die – angetrieben von einer Sommerbrise – in großer Schar den Himmel schmückten. Plötzlich schwebte sie nach oben, und konnte nach den Wolken greifen.
    „Ist jemand bei Dir?“, fragte Ursula. Mit einem Mal war die Rückführerin vom Sie zum Du gewechselt.
    „Ja, eine Hand“, antwortete Minnie.
    „Ergreife sie“, flötete Demarmels sanft. „Wer hält Deine Hand jetzt fest?“
    Die fremde Person zog Minnie mit sich. Mit einem Mal waren sie gleichauf. Erstaunt erkannte sie, dass es der unheimliche Kindgreis war, den sie Hans getauft hatte.
    Minnie nahm wahr, dass sie mit Ursula redete. Gleichzeitig schien sie unendlich weit entfernt zu sein. Zwar hatte sie irgendwie das Gefühl, sofort aufstehen und das Zimmer verlassen zu können, sofern sie es wollte, aber sie wollte es nicht.
    Stattdessen reiste sie weiter mit Hans.
    „Wie lange kennt Ihr Euch schon?“, fragte Ursulas weit entfernte Stimme.
    „Seit Ewigkeiten“, hauchte Minnie. „Wir reisen durch die Unendlichkeit.“
    „Ach, so“, sagte Ursula. „Fliegt jetzt mal weiter und schwebt durch die Lüfte, bis Ihr eine Treppe erblickt. Lass Dir dabei ruhig viel Zeit. Suche sie ganz ohne Stress!“
    Minnie sah sich überall um, doch eine Treppe war nirgendwo zu finden. Stattdessen erschien ein riesiger Spiegel.
    „Ich sehe mich und Hans im Spiegel“, erzählte sie der Rückführerin. Im nächsten Moment erkannte die alte Dame, dass es gar kein Spiegel war, sondern ein Fenster. Ein Fenster mit einem weißen Holzrahmen, das ganz leicht zu öffnen war. Dahinter fand sie endlich die Treppe.
    „Wir stehen jetzt auf der obersten Stufe“, verriet Minnie und blickte nach unten. Die Treppe führte in die Tiefe, die Stufen waren weiß und ebenmäßig.
    „Geh langsam nach unten“, sagte Ursula sanft. „Setze einen Fuß vor den nächsten – und halte an, sobald Du es möchtest.“
    Minnie lief los. Sie wusste nicht, ob ihr Körper flog oder ging. Der Weg führte hinunter, hinab in eine andere Welt.
    Auf Stufe 50 machte sie eine Pause.
    „Was siehst Du dort?“, fragte Frau Demarmels.
    „Mich selbst auf meiner Geburtstagsfeier“, antwortete Minnie. „Ich tanze mit meinem Mann, während alle Gäste klatschen. Ich bin überglücklich. Mein Leben ist auf dem Höhepunkt. Wir tanzen einen langsamen Tango. Vor kurzem hatte ich einen Bandscheibenvorfall. Deshalb schmerzt mein Rücken ein wenig. Aber ich schaffe jede Biegung – und mein Mann führt mich wunderbar. Auch meine Mädchen sind da. Und meine Schwestern und Brüder. Alle sind gekommen.“
    „Dann geh jetzt weiter hinab auf der Treppe“, bat die Rückführerin. „Stoppe erneut, wenn Du Lust dazu hast.“
    Der nächste Halt fand auf Stufe 39 statt.
    „Wo bist Du jetzt?“, fragte Ursula.
    „Ich sehe ein gleißendes Licht“, antwortete die alte Dame. „Ich höre aufgeregte Stimmen. Jemand reicht mir ein Nackenkissen. Mein Kopf dröhnt und mein Bauch spürt Wellen. Ich leide unter starken Krämpfen. Nein! Ich spüre Geburtswehen… Sie überfluten meinen ganzen Körper. Irgend jemand hält meine Hand fest. Es ist… es ist meine Schwester. Ich presse noch stärker. Und jetzt ist es endlich so weit… meine zweite Tochter ist gerade geboren worden. Sie ist auf die Welt gekommen!“
    „Was für ein schönes Erlebnis“, meinte der Singsang. „Ich freue mich sehr für Dich. Du bist also wieder Mutter geworden. Und jetzt geh’ weiter…“
    „Ach, könnte dieser Moment doch für immer andauern… es ist so schön… es ist der schönste Moment meines Lebens… Bitte lass mich noch für einen Augenblick verweilen…“ Minnie hätte das Erlebnis gern für immer festgehalten. Doch es funktionierte nicht. Also schritt sie weiter nach unten. Bis sie Stufe 5 erreichte und ein kleines Mädchen sah, das auf einem Stuhl stand und aus einem großen Fenster auf die Straße hinunterblickte.
    „Was siehst Du dort unten?“, fragte der Singsang.
    „Eine Rauchsäule“, antwortete Minnie. „Irgendetwas brennt lichterloh. Jetzt sehe ich es: Ein großes Haus steht in Flammen. Auf der Straße toben die

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