Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
man am besten mit einem Schutzengel vergleichen kann, erhalten. Man kann ihn auch Lichtführer, Geistführer oder kosmisches Bewusstsein nennen. Minnie wird ihn oder sie sehen können, nachdem ich spezielle Trance-Techniken angewandt und sie sanft in eine tiefe Entspannung geführt habe. Anschließend begleite ich Minnie auf ihrer inneren Reise in ein früheres Leben. Sie wird erkennen, dass ihre Seele unsterblich ist. Außerdem wird sie erfahren, wie es in der Zwischenwelt aussieht – das ist eine Sphäre zwischen zwei verschiedenen Leben.“
„Sieht man dabei auch die Kartoffelkiste?“, fragte Rudi.
„Ja“, antwortete Ursula. „In der Kartoffelkiste, was auch immer Sie sich darunter vorstellen, findet sich so manches Geheimnis.“
Sie fixierte den alten Vagabunden mit einem ernsten, freundlichen Blick.
Rudi schlackerte mit den Ohren.
„Ich muss trotzdem noch einmal einhaken“, sagte Dr. Albers wissbegierig. „Angeblich sieht man nicht nur Szenen aus einem seiner Vorleben, sondern erlebt auch das Ende dieses Vorlebens – das heißt, seinen früheren Tod. Ist das richtig?“
„Ganz genau“, bestätigte Frau Demarmels. „Das ist eine wichtige Erfahrung, die viele Menschen erleben lässt, wie unnötig ihre Angst vor dem Sterben ist. Anschließend ist man überzeugt, dass die eigene Seele wirklich unsterblich ist – und fast immer ist das aktuelle Leben anschließend glücklicher und sinnvoller.“
„Auch, wenn man im Vorleben gekillt wurde?“, fragte Adolf.
„Auch dann“, entgegnete Ursula lächelnd. Ihre kristallklare Stimme schwebte im Raum und drang bis in die letzte Ecke.
In diesem Moment betrat Minnie das Esszimmer.
Ursula war ihr auf den ersten Blick sympathisch.
Die Rückführerin indes musterte die alte Dame besorgt. Sie nahm den kraftlosen Händedruck wahr, sorgte sich um die Blässe ihrer Klientin und spürte Minnies tiefe Müdigkeit.
Ihr Lächeln jedoch verschwand nicht. Im Gegenteil: Ursula nahm Minnie fest in die Arme, und hielt sie fünf Sekunden lang fest.
Dezent blickte Adolf aus dem Fenster, während Rudis Kinn hinunter klappte.
„Und jetzt machen Sie das einfach?“, fragte der alte Vagabund.
„Ja, jetzt geht’s los“, sagte Ursula. Sie blickte Minnie tief in die Augen. „Sind Sie bereit für Ihre Reise?“
„Zu einhundert Prozent“, erwiderte die alte Dame. „Ich wünsche mir nichts sehnlicher.“
„Darf ich zugucken?“, fragte Herr Weiß.
Frau Demarmels verneinte sanft.
„Das machen wir alleine. Mein Mann wird sich mit Ihnen unterhalten. Vielleicht kann sich meine Katze etwas in Haus Holle umsehen?“
„Natürlich“, rief Dr. Albers. „Aber hier gibt es noch zwei Miezen. Nicht, dass Ihrer Katze etwas geschieht…“
„Meine Lilith versteht sich mit jedem Vierbeiner“, verriet Ursula unerschüttert. „Wir lassen sie einfach umherstreifen…“
Sie nahm das schöne Tier vom Schoß. Wie ein beigefarbener Pfeil entschwand Lilith in Richtung Keller. Ursulas Katze hatte längst gerochen, dass es noch zwei Vierbeiner gab. Außerdem hatte Lilith gewittert, das einer von ihnen ein ganz spezielles Tier war…
„Hier sind wir also!“
Ursula musterte den Grünen Saal. Dr. Albers hatte den Konferenztisch an die Wand schieben lassen. Die hohen Fenster waren mit dunklen Tüchern verhangen und im Zentrum des Zimmers stand eine Le Corbusier -Liege aus weißem Leder. Außerdem hatte der Psychologe eine warme Wolldecke, ein kleines Tischchen und einen bequemen Stuhl für Frau Demarmels besorgt.
„Ein schöner Saal, nicht wahr, Minnie?“
Die alte Dame nickte umgehend. Zum Sprechen war sie zu aufgeregt. „Ich fürchte mich ein wenig“, gestand sie.
„Das geht allen Menschen so“, sagte Ursula. „Aber Sie werden gleich sehen, dass es völlig unnötig ist.“
Also legte sich Minnie auf die Liege und verschränkte ihre Hände ineinander. Fürsorglich deckte Frau Demarmels die alte Dame mit einer warmen Decke zu, verband ihr die Augen mit einer schwarzen Binde und nahm Platz auf dem Stuhl.
Minnie sah nichts außer einer tiefschwarzen Dunkelheit. Sie hörte nur noch den eigenen Atem, ihr pochendes Herz und Ursulas angenehme Stimme.
„Wie alt sind Sie, Minnie?“
„84“, sagte Minnie.
„Vierundachtzig lange Jahre“, sagte Frau Demarmels gedehnt und einschläfernd. „Bitte hören Sie jetzt nur noch auf meine Stimme.“
Da tat Minnie, was sie tun musste.
Die alte Dame wusste nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war. Ein Teil von ihr
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