Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
so?“
„Ihm missfällt es seit langem, dass ich trinke. Außerdem stirbt meine zweite Mutter, und er heiratet erneut. Das führt zum endgültigen Bruch zwischen ihm und mir. Mein neuer Vater packt mich an den Haaren und wirft mich aus dem Haus. Jetzt stehe ich ganz allein auf der Straße.“
„Wovon lebst Du?“, fragte der Singsang.
„Ich sehe Blätter“, sagte das Ich. „Vollbeschriebene Papiere. Ich glaube, ich bin ein Schriftsteller. Nein, wohl eher ein Journalist. Mein Geld verdiene ich mit Artikeln.“
„Bist Du glücklich?“, fragte die Stimme.
„Nein“, antwortete das Ich. „Ich bin unglücklich, weil alles so schwer ist. Meine minderjährige Frau und ich müssen ständig hungern. Ich tingele von einer Großstadt zur nächsten – ständig auf der Suche nach Arbeit. Das Leben ist düster. Ich trinke zu viel und fühle mich unwohl. Meine Ehefrau ist noch ein Kind. Das ist nicht gut für einen Mann. Wegen der ganzen Exzesse ist mein Ruf bald ruiniert.“
„Spring mal weiter in die Zukunft. Bekommst Du Kinder mit Deiner Frau?“
„Nein“, sagte das Ich. „Das Gegenteil ist der Fall. Meine Frau erkrankt an Schwindsucht. Sie spuckt ständig Blut, und stirbt mit 24 Jahren.“
„Bist Du Deiner kindlichen Frau schon mal in einem anderen Leben begegnet?“, fragte die kristallklare Stimme.
„Ja – immer wieder. Seit Anbeginn der Zeit sind wir zusammen, in wechselnden Körpern und wechselnden Ländern. Wir waren, sind und werden eins sein. In diesem Leben – aber auch in allen zukünftigen. Sie ist immer meine einzige große Liebe: Zeit wird Raum – aber die Liebe bleibt.“
„Wie geht es Dir nach dem plötzlichen Tod Deiner kindlichen Frau?“
„Sie fehlt mir so sehr. Was im Strom der Zeit vorübertrieb, wird Erinnerung. Doch ich leide noch unter etwas anderem, zum Beispiel unter einem anonymen Briefeschreiber, der mich der Untreue bezichtigt. Als ich nicht mehr weiter weiß, will ich mir das Leben nehmen – mit Hilfe eines kleinen Fläschchens. Ich sehe mich selbst, wie ich vor einem Spiegel stehe und überlege, ob ich den Inhalt trinken soll. Ich sehe dünn aus, und ganz traurig. Schrecklich bleich, irgendwie seltsam.“
„Was ist in dem Fläschchen? Ist es etwa Gift?“, fragte der Singsang.
„Ja… ich kann die Aufschrift entziffern… auf der Flasche steht Laudanum .“
„Das ist eine Opiumtinktur, die tödlich sein kann“, sagte die fremde Stimme. „Überlebst Du?
„Ja. Ich verlobe mich sogar zweimal… Aber eine Heirat findet nicht mehr statt in diesem Leben.“
„Mich interessiert, worum es in Deinen Artikeln geht“, sagte die unbekannte Stimme. „Was für Sachen hast Du geschrieben?“
„Schwarze Geschichten“, sagte das Ich. „Es geht um Katzen und um Morde, um Tod und Verderben, um Grauen und Untergang – und die Angst, lebendig begraben zu werden. Meine Seele will alles herausschreien, was ich so lange erduldete… Den frühen Tod meiner Mutter, die Trennung von meinen Geschwistern, den Blutsturz meiner kindlichen Gattin und den Hass auf den anonymen Briefeschreiber.“
„Erinnerst Du Dich an einen Buchtitel?“
„Nein“, antwortete das Ich müde. „Mir fallen nur die Katzen ein. Außerdem erinnere ich mich an eine Geschichte mit einem Orang-Utan, der in eine Wohnung klettert und dort einen Doppelmord begeht. Meine Phantasie ist unerschöpflich.“
„Dann springe jetzt weiter in der Zeit. Schau Dir den Morgen Deines Todestages an. Wo bist Du da?“
„Inzwischen bin ich ein älterer Mann“, antwortete das Ich. „Es geht mir sehr schlecht… Ich habe eine lange Schiffsreise hinter mir. Ich bin heruntergekommen… Hinter mir liegt ein tagelanger Trink-Exzess… Eine Sauftour… Außerdem habe ich in den letzten Tagen und Nächten verschiedene Drogen, die den Geist erweitern sollen, konsumiert… All das wurde mir von seltsamen Männern verabreicht, die mich zu einem Wahllokal geschleppt haben. Diese Männer wollten, dass ich für ihren Kandidaten stimme. Es geht um eine politische Abstimmung. Jetzt wanke ich allein durch schlecht beleuchtete Straßen… Ich habe düstere Halluzinationen von Raben, von schwarzen Katzen und Geistern, die mich heimsuchen.“
„Das klingt nicht gut“, meinte der Singsang. „Was passiert dann?“
„Ich werde in eine Klinik eingeliefert, weil ich zusammenbreche.“
„Wie sieht das Hospital aus?“, wollte der Singsang wissen.
„Es ist ein fünfstöckiges Hauptgebäude mit einer Art Glockenturm an der
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