Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Du erblickst. Hast Du das alles verstanden?“
„Ja“, hauchte Minnie.
„Es ist jetzt so weit – Du öffnest die Schublade! Drei – Zwei – Eins… Sage mir direkt, was Du erblickst!“
„Ich sehe ein schönes Zimmer“, sagte eine Stimme. „Ich stehe mitten in diesem Zimmer vor einem verzierten, schönen Spiegel.“
„Wer spiegelt sich darin?“
„Ein kleiner Junge“, antworte Minnies fremde Stimme.
„Wie sieht er aus?“
„Er hat dunkle Haare. Er trägt einen Anzug. Er ist ganz in Schwarz gekleidet.“
„Warum?“
„Ich weiß es nicht! Im Zimmer sind viele weinende Menschen. Ich selbst kann erst seit kurzem stehen. Ich sehe sehr ernst aus, ich bin sehr schlank.“
„Sieh Dich weiter im Zimmer um… Erblickst Du ein Buch oder ein Bild, das Dir mehr darüber verrät, wo Du bist?“
„Ich bin im Zimmer meiner Mutter.“
„Was machst Du dort?“
„Heute dürfen mein Bruder und meine Schwester und ich uns von meiner Mutter verabschieden. Sie sieht so schön aus, sie ist so jung. Sie ist vor kurzem gestorben. Gestern Nacht wurde sie in diesem Zimmer aufgebahrt. In ihren Händen hält sie ein Notenblatt.
„In welcher Sprache sind die Liedzeilen verfasst?“
„Ich glaube… ja… es ist Englisch.“
„In welchem Land befindest Du Dich?“
„Ich lebe in Amerika. Die Damen sind so schön gekleidet. Jede von ihnen hält ein feines Taschentuch in den Händen. Alle sehen mich mitleidig an.“
„Wo ist Dein Vater?“
„Er hat uns schon längst verlassen. Ich werde nie mehr von ihm hören. Jetzt sind wir drei völlig allein.“
„Doch wie geht Dein Leben weiter?“
„Man trennt mich von meinen Geschwistern. Ich komme… ja… eine Freundin meiner Mutter nimmt mich bei sich auf… Sie hat keine Kinder… Sie hatte schon lange ein Auge auf mich geworfen… Sie ist jung und wunderschön… Ihre Haare sind hochgesteckt, um die Ohren ringeln sich Locken… Sie hat ein üppiges Dekolleté…“
„Wie heißt die Stadt, in der Du lebst?“
„Ich kann es nicht sehen! Ich glaube, ja… da ist ein Schild… ich bin in Richmond.“
„Wie ruft Dich Deine neue Mutter?“
„Sie nennt mich… Wenn sie mich ruft, nennt sie mich Ed.“
Düstere Zeiten
Der Singsang wollte vieles wissen.
„Wie geht es Dir bei Deiner zweiten Mutter?“, fragte die flötende Stimme.
„Sie ist immer nett“, antwortete das Ich. „Doch ihr Mann… der ist manchmal seltsam. Ich werde ihn nie richtig verstehen.“
„Warum nicht?“
„Manchmal schenkt er mir schöne Sachen, aber oft hat er auch schlechte Laune. Dann sieht er mich an, als ob ich ihm lästig sei. Ich glaube, er hat Geldprobleme.“
„In welchem Jahr lebst Du? Hängt ein Kalender an der Wand?“
„Nein“, sagte das Ich. „Aber auf dem Tisch meines Vaters liegt ein Notizkalender. Darin steht die Zahl 1815.“
„Was hat Dein neuer Vater noch notiert?“
„Dass er und seine Frau bald auswandern werden, und ich mitkommen muss nach Europa.“
„Dann spring weiter in der Zeit. Wie ist Dein Leben in Europa?“
„Wir bleiben nur kurz dort. Ich besuche ein Internat. Aber dann geht es mit der ganzen Welt bergab… Mein neuer Vater stöhnt immer darüber, dass es bergab geht mit der ganzen Welt…“
„Warum?“
„Die Menschen haben nichts mehr zu essen und keine Arbeit“, sagte das Ich. „Viele Mütter lungern auf der Straße herum. Allerorten wird gestohlen, um den Hunger zu stillen und die Kinder ernähren zu können.“
„Ist das die Weltwirtschaftskrise?“
„Ich weiß es nicht, mir fehlt das Verständnis. Wir ziehen zurück nach Maryland. Dort hat mein neuer Vater endlich Glück. Er erbt unglaublich viel Geld, nachdem sein Onkel gestorben ist.“
„Profitierst Du auch davon?“
„Ja“, sagte das Ich. „Ich besuche die besten Schulen. Außerdem gehe ich gern schwimmen.“
„Spring mal ein paar Jahre weiter. Wann verliebst Du Dich zum ersten Mal?“
„Ich sehe eine wunderschöne Frau. Sie ist viel älter als ich. Es ist die Mutter eines Schulfreundes. Aber sie stirbt früh. Ich habe sie nur einmal geküsst.“
„Heiratest Du später eine andere Frau?“
„Ja, eine junge Verwandte. Meine Ehefrau ist noch ein Mädchen. Sie ist erst dreizehn Jahre alt.“
„Wie heißt sie?“
„Ich kann es nicht sehen.“
„Was machst Du beruflich?“
„Zuerst gehe ich zum Militär. Dort gibt es jede Menge Probleme. Ich sehe Flaschen, Alkohol, Drogen. Und Ärger mit meinem Stiefvater.“
„Warum ärgert er sich
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