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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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depressive Phase durchlitten hatte. Kurz bevor sie vom Erdboden verschluckt wurde, war ein junger Mann gestorben. Mit ihm hatte sie im Sommer oft im Garten gesessen und Händchen gehalten.“
    „Vom Erdboden verschluckt?“ fragte Minnie erstaunt.
    „Ja, man suchte sie drei Wochen. Eines Abends stand die krumme Sonja wieder vor der Tür. Ein Krankenwagen lud sie aus. Das weiß ich, weil ich damals auf der Parkbank saß.“
    Adolf Montrésor betastete seine Beule und fuhr fort. „Als Sonja zurückkam, sah sie vollkommen anders aus. Zwar war sie noch nicht so krumm wie heute, aber die Krankheit hatte sie ganz schön gezeichnet. Damals sagten die Ärzte, dass sie einen Schlaganfall erlitten hätte. Seither geht es nur noch bergab mit ihr. Inzwischen ist sie spastisch gelähmt – und, wenn Sie mich fragen, auch erblindet. Ihre Mutter kann das nicht verstehen. Neulich hörte ich, wie sie sich darüber wunderte, dass Sonjas Blick so leer ist.“
    „Eine tragische Geschichte“, bemerkte Minnie. „Das Mädchen ist so jung.“
    „Die Drogen“, seufzte Adolf. „Schuld daran sind nur die Drogen.“ Dann bemerkte er, dass ihnen der kleine Kater zuhörte, und Montrésor schenkte dem Tier einen nachdenklichen Blick. „Wussten Sie, dass Nepomuk eine seltsame Begabung hat?“
    Minnie sah ihn fragend an, und Adolf  beugte sich vor. Er streichelte das Fell des Katers. „Nepomuk sitzt fast immer auf den Betten der frisch Verstorbenen in Haus Holle“, sagte er leise. „In Rhode Island gab’s mal einen ähnlichen Fall. Dort lebte ein Kater namens Oscar in einem Pflegeheim für Demenzkranke. Irgendwann fiel der Heimleitung auf, dass der Stationskater immer kam, wenn es mit einem Bewohner zu Ende ging. Sobald es ans Sterben ging, sprang der Kater ins Bett. Schließlich entschlossen sich die Ärzte, die Angehörigen derjenigen Menschen zusammen zu trommeln, die Oscar besuchte – weil seine Trefferquote so hoch war. Er lag in allen Fällen richtig.“
    „Wie unheimlich“, meinte Minnie.
    „Ist das nicht eine Frage der Perspektive?“, fragte Adolf. „Oscar soll den Sterbenden tief in die Augen geschaut, und dabei geschnurrt haben. Viele Menschen hat das beruhigt.“
    „Es ist also keine von den Medien aufgebauschte Geschichte?“
    „Keineswegs, meine Liebe. Das beweist eine andere Oscar-Anekdote: Einmal lag eine Frau anscheinend im Sterben. Die Ärzte riefen die Angehörigen herbei, doch Oscar ließ sich nicht blicken. Drei Tage später lebte die Frau immer noch. Dann sprang Oscar plötzlich doch ins Bett der Todkranken, und kurz darauf stieß sie ihren letzten Seufzer aus.“
    „Ich kann mir gut vorstellen, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die wir uns nicht vorstellen können“, sagte Minnie.
    Nepomuk sah sie aufmerksam an.
    „Und was denken Sie über dieses Haus, Adolf?“
    „Ich kannte Haus Holle schon vor meiner Krankheit. Als ich noch ein Manager war, habe ich hier mal eine Woche lang gearbeitet. Mein damaliger Chef war der Meinung, dass es uns Managern an Empathie mangelt. Deshalb musste ich eine Woche als Praktikant in Haus Holle jobben. Das Projekt hieß Seitenwechsel .“ Sich erinnernd, sog er die Luft ein. „Zuerst hatte ich gar keine Lust darauf. Schließlich musste ich meine sichere Welt und meinen liebgewonnen Zahlenkosmos verlassen. Doch nach der Woche in Haus Holle spürte ich, wie wichtig diese Erfahrung war. Damals habe ich zum ersten Mal verstanden, dass man nicht immer ans Morgen denken soll, sondern im Hier und Heute leben muss.“
    Minnie wunderte sich. „Aber warum stellt ein Hospiz wie Haus Holle einen Manager als Praktikanten ein?“
    „Weil Wirtschaftsbosse dem Haus etwas zurückgeben können – zum Beispiel ökonomische Ratschläge. Für die Pfleger war’s auch toll. Endlich konnten sie mal einem Zahlenmenschen erzählen, was sie täglich leisten. Sie haben meinen vollsten Respekt.“
    „Und weil Sie das Haus schon kannten, sind Sie…?“
    „Ja“, sagte Adolf. „Deshalb bin ich jetzt hierher gezogen.“ Der Ex-Manager deutete auf die seltsame Stelle an seinem Hinterkopf. „Sehen Sie das? Es ist keine normale Beule, sondern eine Knochenmetastase. Mein ganzer Körper sitzt voller Krebs. Ich glaube, dass er längst von den Eiern ins Gehirn gewandert ist. Damit bleibt man nicht in einem Krankenhaus, und erst recht nicht zuhause. Vor allem nicht, wenn die eigene Ehefrau zur selben Zeit wie man selbst erkrankt – und zwar an Alzheimer.“ Er lachte bitter. „Ja, uns hat

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