Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
an, während sich seine andere Gesichtshälfte in ihr Handinneres schmiegte. Es musste sich um den Kater handeln, der die Herzen im Akkord brach. „Hallo Nepomuk“, sagte Minnie.
Die alte Dame kniff ihre Augen zusammen und fixierte den halbdunklen Gang. Dort sah sie die andere Katze. Mimi war eine etwas größere, ebenfalls schwarzweiße Samtpfote mit den schönsten Katzenaugen, in die Minnie je geblickt hatte. Das Tier stand unschlüssig an der Wand. Ihr Schwanz zuckte interessiert. Direkt unter Mimis Kinn hatte sich der liebe Gott verewigt, indem er seinen Finger einmal in schwarze Tinte getaucht und den Abdruck mitten in ihr weißes Fell gedrückt zu haben schien. Minnie erkannte sofort, dass es eine wunderschöne Katze war, die einen interessanten Charakter hatte. Als könne das Tier ihre Gedanken lesen, rieb es seine linke Gesichtshälfte an der Wand, lief dann auf die alte Dame zu, und drehte, kurz bevor es sie erreicht hatte, scharf nach rechts ab, um sie einmal in einem mittelgroßen Radius zu umkreisen. All das geschah mit sechzig Prozent der möglichen Katzen-Maximalgeschwindigkeit, was dem höchsten Trippel-Tempo entspricht.
Minnie musste herzhaft lachen. So ein verrücktes Ding!
Die Katze nahm auf 11 Uhr Platz und musterte den neuen Gast eindringlich.
„Okay, Du spielst deine Spiele“, sagte Minnie lächelnd. Sie bot Mimi ihre Hand an.
Endlich zeigte das Tier Vertrauen und kam näher. Die alte Dame konnte nicht ergründen, ob das aus Neugier geschah oder weil das Eis gebrochen war. Wie auch immer: Mimi trippelte in einer diagonal bei Minnie endenden Wellenbewegung auf den neuen Gast zu, beschnupperte die alte Dame, drückte ihre schwarze Schnauze mit überraschender Kraft in deren Hand, legte dann einen vorderen Viertelkreis zurück, kratzte sich am Hinterteil und enteilte Richtung Treppe, während Nepomuk den neuen Gast angähnte.
„Hallo! Ruhen Sie sich etwas aus, bevor Nana singt?“ Vorsichtig schlenderte Adolf Montrésor auf Minnie zu. Der schlanke Mann mit dem wettergegerbten Gesicht hatte sich einen grünen Schal um die schmalen Schultern gelegt. Er trug eine Nikotinwolke vor sich her und ging an einem Rollator, an dem ein leerer Katheter schaukelte.
Höflich antwortete die alte Dame. „Guten Abend, Herr Montrésor. Ich warte auf den Schmerztherapeuten.“
„Und? Wie ist Ihr erster Eindruck?“
„Momentan bin ich erschöpft. Es waren zu viele Erlebnisse.“
„Am Anfang ging es mir genau so“, gestand ihr Adolf. „Ich bin vor vierzehn Wochen in Haus Holle eingezogen. Damals war es hier noch total still. Tagelang habe ich keine anderen Bewohner gesehen, weil alle auf ihren Zimmern gegessen haben. Frau Prinz und ich waren fast immer die einzigen Gäste im Esszimmer. Aber mit der Hundezüchterin verstehe ich mich nicht besonders gut. Sie wissen ja, ich stinke immer – nach Nikotin…“
Der ausgemergelte Mann fasste sich an den Hinterkopf und tastete nach einer seltsamen Stelle unter seinem schütteren Haar. Er setzte sich zu Minnie und fuhr fort. „Als der Spätherbst kam, zogen Annette und Angie hierher. Kurz darauf kamen die Knopinskis, dann Professor Pellenhorn, und zuletzt unsere Schönheitskönigin. Nur Sonja und die Hundezüchterin sind noch länger hier als ich.“
„Frau Prinz hat mir erzählt, dass hier noch ein paar andere Gäste leben. Kennen Sie die auch?“
Tatsächlich wusste Adolf einiges über die bislang unbekannten Bewohner. „Die Gäste, die man seltener sieht, leben alle im zweiten Stock. In Zimmer 11 wohnt eine junge Mutter mit einem Kind. Die beiden bringen ganz schön viel Leben in die Bude. Vor allem die kleine Fee. Wenn die mit ihrem Mops über die Flure stürmt, müssten Sie die Hundezüchterin mal schimpfen hören. Frau Prinz kann echt abgehen. Aber das Kleinkind tut mir leid. Fee leidet unter dem Aufmerksamkeits-Syndrom und kann sich auf nichts konzentrieren.“
„Ist mal ein Gast gesund geworden, seit Sie hier leben?“, fragte Minnie.
„Einer hat das Haus mal verlassen“, wusste Adolf. „Das war die krumme Sonja, als sie noch laufen konnte. Kurz vor Ihrem Auszug war ein Fernsehreporter nach Haus Holle gekommen. Er hatte den Auftrag, eine Woche lang etwas Gutes zu tun. Also ging er mit Sonja spazieren, und zeigte ihr die bunten Flimmerläden im Amüsierviertel. Das hat die junge Frau auf den Geschmack gebracht und sie zum Ausbüxen verleitet. Irgendwie kam eins zum anderen. Ich glaube, dass sie fliehen wollte, weil sie gerade eine
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