Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
es doppelt getroffen. Zwar besucht mich meine Frau zweimal pro Woche, gemeinsam mit einer ukrainischen Pflegerin, aber sie vergisst immer wieder, wo ich bin. Manchmal erkennt sie mich nicht mal mehr!“
Minnie sah ihn bedauernd an, und Adolf fuhr fort. „Kürzlich war mein Portemonnaie verschwunden, nachdem meine Frau mich besucht hatte. Sie muss es weggeworfen haben. Vor einem halben Jahr hatte sie schon mal einen Geldschein im Mund. Damals fragte sie, ob ich etwas zum Nachspülen hätte, denn das Essen sei so trocken. Solche Sachen passieren ihr ständig. Dabei wollten wir gemeinsam alt werden.“
Adolf verstummte, und Minnie trug sein Schweigen mit.
In diesem Moment trat, ausgestattet mit einem Rollwagen und Speisen, ein Pfleger aus dem Lift. Er klopfte an die Tür der Knopinskis.
„Andererseits“, meinte Adolf mit einem vielsagenden Blick, „ist es manchmal gar nicht erstrebenswert, gemeinsam uralt zu werden.“
„Sie kennen die Knopinskis?“
Montrésor verneinte. „Aber was ich gesehen habe, reicht für ein Menschenleben. Der Alte ist ein Despot, der seine arme Frau fortlaufend schikaniert. Ich habe gehört, dass er sich heute beim Kaffeetrinken von seiner hässlichsten Seite gezeigt haben soll.“
„Mir erscheint er nicht besonders gesund“, sagte Minnie. „Ich tippe auf Wassersucht und ein krankes Herz.“
„Wenn er überhaupt eins hat. Aber seine Frau soll sehr krank sein. Eigentlich verwunderlich. Sie sieht doch ganz fit aus! Optisch hat sich ihr Gesundheitszustand in den letzten Tagen jedenfalls nicht verschlechtert.“
Interessiert blickte Minnie auf. Über das Leiden von Gertrud Knopinski wusste sie bislang nichts. „Was fehlt ihr denn?“
„Ein Stück Bauch“, verriet Adolf. „Dort klafft jetzt ein großes Loch, aus dem ständig Eiter fließt. Das hat sie mir selbst erzählt. Angeblich wurde ihr Bauch einmal zu oft geöffnet, als sich die Chirurgen auf ihren aggressiven Krebs gestürzt haben. Ihre Wunde will nicht mehr verheilen.“
Laute Schritte auf der Treppe und der freundliche Blick eines jungen Mannes verrieten die Ankunft des Schmerztherapeuten. Er stellte sich als Dr. Coppelius vor und wurde von Bruno begleitet.
Adolf verabschiedete sich, und die alte Dame wurde in ihr Zimmer gebeten.
„Zuallererst“, sagte Bruno, „möchte ich Ihnen ein paar Regeln mitteilen, Minnie. Nicht jeder kommt mit meiner großen Klappe klar, aber im Nachhinein hat es sich immer als ein Vorteil erwiesen, rechtzeitig Klartext geredet zu haben.“
Minnie wusste nicht, was er meinte, doch sie beschloss, Bruno ihre Aufmerksamkeit zu schenken.
„ Die Hygiene ist das Wichtigste in diesem Haus , sagt die Hauswirtschafterin. Deshalb muss ich Ihnen jetzt ein paar Dinge vorlesen.“ Er zog einen zusammenfalteten Zettel aus seiner teuren Markenjeans. „Wir waschen hier mit Desinfektionsmitteln. Wenn Sie also Wäsche haben, legen Sie alles, was schmutzig ist, einfach in die Dusche. Außerdem ist es in Ihrem eigenen Interesse, sich immer die Hände zu waschen. Deshalb gibt’s überall in Haus Holle Spender mit Sterilium . Und falls Sie sich nachts mal selbst etwas in der Küche zubereiten möchten, beachten Sie bitte die Angaben auf diesem Zettel. Sie können lesen?“ Er drückte Minnie ein Blatt Papier in die Hand.
Die alte Dame bejahte und setzte ihre Lesebrille auf. Sie überflog Brunos Liste, die offensichtlich von Katharina verfasst worden war .
„Darf ich allein in die Küche gehen?“, fragte Minnie erstaunt.
„Nur, wenn Sie den Empfang dieser Liste quittieren!“ Bruno reichte ihr einen Füller, und die alte Dame unterzeichnete den Zettel.
„Als nächstes möchte ich darauf hinweisen, dass es im Esszimmer keine feste Tischordnung gibt. Auch wenn Frau Prinz immer behauptet, dass der Platz am Kopfende ihr gehört. Haben Sie das verstanden?“
Minnie nickte.
„Dann kommen wir jetzt zum Essen. In Haus Holle arbeitet ein exzellenter Koch, der Sie vormittags nach Ihren Wünschen fragen wird. Sein Name ist Kostja. Sie können ihm sagen, was Sie essen möchten, und er wird es zubereiten. Behandeln Sie ihn bitte nett. Dass wir hier überhaupt einen professionellen Koch haben – und kein Essen auf Rädern – ist Mäzenen zu verdanken. Das soll auch in Zukunft so bleiben. Unserer Meinung nach haben Sterbenskranke in den letzten Wochen ein Anrecht darauf, sich wohlzufühlen. Außerdem“, fuhr der runzlige Pfleger fort, „gibt es täglich einen Vitaminsaft. Der Koch wird Sie bei
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