Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
immer wach. Um Elend zu begreifen und um zu helfen.“
„Aber Freimaurer bilden doch einen Geheimbund?“, warf Annette ein. „Müssen Sie darüber nicht schweigen?“
„Das sind alles so Gerüchte“, antwortete Marius. „Niemand zwingt einen zum Schweigen. Was gibt es zu verbergen, wenn man sich für Toleranz und Humanität einsetzt?“
„Ich dachte immer, Freimaurer klauen Kinder und fressen die Kleinen.“ Natürlich: Marisabel Prinz hatte immer noch schlechte Laune.
Marius zog ein Amulett, das ein Auge zeigte, hervor. „Das habe ich seit dreißig Jahren. Es hat mir immer Glück gebracht.“
„Glück? Mann, sind Sie sich nicht bewusst, wo Sie hier sind?“ Marisabel polterte los, doch bevor sie sich weiter ereifern konnte, trat Minnie an den Tisch und ging dazwischen
„Welchen Rang haben Sie?“, fragte sie und setzte sich.
„Zuerst war ich Lehrling, dann ein Geselle – und jetzt bin ich seit langem Meister.“ Lächelnd sah Marius Minnie an.
„Aber sind Sie irgendwie besonders religiös?“, fragte Bella.
„Wie gesagt, wir Freimaurer sind tolerant“, entgegnete Marius – „offen für alles und jeden. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität sind die höchsten Werte unserer Weltbruderkette.“
Annette prustete los. „Weltbruderkette? Wie das klingt!“ Sie wandte sich ihrer Frau zu. „Aber besser als Betschwestern…“
„Ich habe einmal…“, begann Adolf Montrésor, doch ein schrecklicher Hustenanfall erschütterte seinen Brustkorb und er konnte den Satz nicht vollenden.
Besorgt blickte Professor Pellenhorn Montrésor an.
„Sooooo wieeeeee niiii“, sagte der Professor. Seine kehligen Laute, deren Verständlichkeit sich innerhalb der letzten Woche verschlimmert hatte, gingen im allgemeinen Gerede unter. „Wenn alle so laut sind, ist mein Mann sprachlich noch schlechter zu verstehen“, rief Frau Pellenhorn.
Hilflos sah Berthold Minnie an und die alte Dame erkannte, dass die Augen des lächelnden Buddhas ihre Freude, aber auch ihren Glanz eingebüßt hatten, während sie in der Klinik gewesen war. Dann wurde ihre Aufmerksamkeit auf ein Gespräch am anderen Ende des Tisches gelenkt.
„… und hast Du die Videokamera bekommen?“ Angies Frage war an Bella gerichtet.
„Ja! Heute Abend installieren mein Mann und ich sie an meinem alten Laptop. Dann kann ich endlich mit meinem Mann skypen , und muss tagsüber nicht mehr nach Hause.“
Skypen – davon hatte Minnie noch nie etwas gehört. Angie erklärte ihr geduldig, dass Bella dank der Kamera mit der ganzen Welt verbunden war, und die ganze Welt mit ihr.
„Per Skype kann man sehen, mit wem man telefoniert“, sagte sie.
„Aber mir geht es dabei um etwas anderes“, fügte Bella hinzu. „Dank Skype kann mein Mann sehen, wie es mir hier geht. So ist er bei mir, obwohl er nicht hier ist. Das gibt mir ein sicheres Gefühl.“
„Ein Fenster zur Welt also…“ Marius brachte es auf den Punkt – und wandte sich Mutter Merkel zu. „Wäre das nicht auch etwas für Sie?“
Die weißgelockte Dame blickte ihn verschmitzt an. „Was soll ich damit? Ich bin ja immer hier bei meiner Kleinen. Obwohl Sonja immer öfter schläft.“ Ihre Augen wanderten ins Leere.
„Geht es Sonja schlechter?“, fragte Minnie besorgt.
Hildegard Merkel sah sie unschlüssig an. „Manchmal glaube ich, dass sie irgendwie nicht mehr richtig sieht.“
„Ist Ihre Tochter nicht blind?“, fragte Bella.
„Blind?“ Hildegard Merkel war entsetzt. „Sonja doch nicht! Aber sie guckt oft so komisch.“ Die quirlige Dame lächelte Marius an. „Sie hätten Sonja mal sehen sollen, als sie noch auf die Piste ging. Meine Sonja war ein richtiger Feger. Das kann man sich heute kaum noch vorstellen.“
Der Freimaurer griff nach Mutter Merkels Hand, und sah ihr tief in die Augen. „Erzählen Sie mir mehr von Sonja – falls Sie mögen!“
Darum musste man Hildegard nicht zweimal bitten. „Wir waren mal eine glückliche Familie – mein Mann Hugo, mein Sohn Arndt, Sonja und ich. Bis wir nach Italien fuhren. Am dritten Urlaubstag brach Hugo plötzlich auf der Straße zusammen. Er kam in die Klinik – und als…“
Sie stockte.
Marius jedoch drückte ihre Hand, und die rüstige Dame fuhr leise fort.
„Der ADAC hat dafür gesorgt, dass mein toter Hugo nach Deutschland überführt werden konnte, und hier begraben wurde. Es war ein plötzlicher Herztod – nach 20 Jahren Ehe! Sechs Jahre später lernte ich meinen zweiten Mann kennen,
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