Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Tasse. „Trotzdem ist alles beim Alten…“
„Wie geht es Annette, wie Bella, wie Omi?“ Minnie zeigte großes Interesse. „Was ist mit all den anderen?“
„Sie sind alle wohlauf“, sagte Marisabel munter. „Soweit ich weiß, machen sie Erledigungen in der Stadt! Es ist ja früher Vormittag!“ Ihre Augen verengten sich. „Aber es gibt drei Neuzugänge…“ Verheißungsvoll senkte Marisabel die Stimme.
„Sind zwei Bewohner gestorben?“ Minnie richtete sich auf.
„Das nicht gerade“, antwortete die Hundezüchterin. „Aber in 2, dem früheren Knopinski-Zimmer, wohnt jetzt ein Kavalier alter Schule.“ Entzückt kicherte sie auf. „Er ist wirklich wunderbar. Macht allen Damen den Hof – obwohl er kaum noch sehen kann. Wenn Sie mich fragen, ist Marius Stamm eine echte Bereicherung für dieses Haus. Er wird Ihnen sehr gefallen!“
„Und die anderen Neuzugänge?“
„Sind weniger interessant“, sagte Marisabel gähnend. „Eigentlich sind es nicht mal Neuzugänge. Wir haben sie vorher bloß noch nie hier unten im Esszimmer gesehen. Anne und Mike sind die Ehefrau und der Sohn eines Gastes aus Zimmer 12, den ich leider noch nie mustern konnte. Seine Gattin lässt sich nur selten blicken, doch der Sohn kommt jetzt immer zum Essen. Er ist Reporter. Omi findet ihn großartig. Sie müssten mal sehen, wie sie manchmal errötet! Seit er mit uns speist, trägt sie nur noch blond. Und kämmt ihre Perücke sogar.“
Minnie fuhr sich in die Haare. „Zum Friseur muss ich auch dringend!“
„Nicht doch, meine Liebe! Sie sehen entzückend aus!“
Ein kleiner Mann betrat das Esszimmer – grauhaarig, schelmisch und grinsend. Sein Knopfloch zierte eine Blüte, direkt neben einem Blindenzeichen.
Flugs streckte er Minnie seine Hand entgegen, deutete eine Verbeugung an und sah ihr tief in die Augen.
„ Stamm, mein Name, Marius Stamm.“
Minnie fühlte sich geschmeichelt.
Obschon der alte Mann fast blind war, erkannte sie, dass er einmal tiefschwarze, funkelnde Augen gehabt haben musste. Das graue Haar war sorgfältig gescheitelt, ein Spitzbart zierte das markante Kinn.
Er flötete You are my sunshine , marschierte dabei um den Tisch herum und nahm ihr gegenüber Platz.
Sowohl seine Gestalt – aber auch die flinken Gesten – erinnerten Minnie an einen frechen Kavalier, und plötzlich fühlte sie sich wie Victoria Ware, oder besser gesagt, wie die kanadische Schauspielerin Alexis Smith, die 1941 in einem Film, an dessen Titel sich die alte Dame nicht mehr erinnern konnte, von Errol Flynn um den Finger gewickelt worden war und sogar seinen Heiratsantrag akzeptiert hatte.
Zu ihrem Erstaunen bemerkte Minnie, dass ihre Finger plötzlich ein Eigenleben führten, und dass sie ihre Serviette zerknüllte.
Aber momentan war nichts anderes greifbar, an dem sie sich festhalten konnte.
Marisabel sah von einem zum anderen. „Sehen Sie“, flüsterte sie triumphierend, „ich habe es Ihnen ja prophezeit, Minnie. Sie mögen ihn.“
„Darf ich den Damen einen Tee kredenzen?“, fragte Marius Stamm gewandt. Ehe er eine Antwort bekam, war Marisabels Tasse bereits gefüllt.
Er wandte sich Minnie zu. „Sie auch, meine Liebe?“ Sein ehrlicher Blick verriet tiefe Sympathie.
Normalerweise trank Minnie keinen grünen Tee, und wollte gerade dankend ablehnen, als die Hundezüchterin ihr bedeutete, das Getränk unbedingt anzunehmen. Im nächsten Moment jedoch verschluckte sich Marisabel heftig, weil sie sich vor irgendetwas geekelt hatte. „Sind das Katzenhaare im Tee?“ Ihre roten Locken wippten.
„Nein, Verehrteste“, antwortete der alte Mann und wischte mit einer flinken Handbewegung über den Tisch. „Sie mögen doch Katzen?“
„Nicht unbedingt“, sagte Marisabel gedehnt. „Vor allem nicht am Esszimmertisch…“
„Ich meinerseits“, flötete der Kavalier, „ich habe diese eleganten, geschmeidigen Wesen immer geschätzt. Katzen haben uns so vieles voraus!“
Er richtete seinen Blick auf Minnie.
„Sie, meine Liebe… Sie wissen auch, welch ein Schatz eine anschmiegsame Katze sein kann. Dessen bin ich mir ganz sicher.“
Die alte Dame nippte an ihrem Tee. Zu ihrer Überraschung schmeckte er besser, als ihre Zunge gedacht hätte, sofern sie hätte denken können.
„Sie haben Recht, ich liebe Katzen. Und hier leben zwei zauberhafte Exemplare. Wobei…“, Minnie nahm einen weiteren Schluck, „ich die Katze des Hauses noch leicht interessanter finde als den Kater.“
„Warum?“, fragte
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