Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Im vergangenen Sommer saßen wir auf meiner Terrasse, und haben Schnittchen gegessen… Außerdem hat er dafür gesorgt, dass Sonja ihren Freund nochmal anrufen konnte, denn der sitzt ja im Gefängnis. Zwar konnte Sonja nur noch ja oder nein zu ihm sagen, aber es tat ihr so gut, seine Stimme zu hören. Das war ihr größter Wunsch…“ Sie schweifte in die Vergangenheit ab, riss sich dann plötzlich zusammen und sagte mit erhobener Stimme: „Genug davon – ich will hoch zu meinem Kind!“ Wendig stand Hildegard auf, strich ihren selbstgestrickten Pullover glatt und wünschte der Tischrunde einen schönen Tag.
„Die alte Dame ist bewundernswert“, meinte Angie. „Ich verstehe Mutter Merkel sehr gut. Wenn Annette und mir vor kurzem ein Pärchen mit einem Rollstuhl entgegen gekommen wäre, und einer von beiden einen Elefantenrüssel in der Nase gehabt hätte, wäre es auch über meine Vorstellungskraft gegangen, dass man trotzdem glücklich sein kann.“
Sie gab ihrer Frau einen Kuss und Annette schenkte ihr ein Lächeln.
Omis Appetit war gigantisch. Zwar hing ihre blonde Perücke mittlerweile wieder auf halb acht, doch seit dem bewegenden Gespräch zur Mittagszeit war sie im Esszimmer sitzen geblieben. Vielleicht lag das an Marius Stamm, der sich – genau wie Minnie – nicht auf sein Zimmer zurückgezogen hatte.
Irgendwo im Haus erklang das Lachen einer Frau. „So ist das hier“, erklärte Omi dem alten Freimaurer. „In einem Zimmer wird getrauert und geweint, in einem anderen gelebt und gelacht. Ich hoffe, es gibt eine leckere Torte, wenn Kostja mit seiner erotischen Massage fertig ist.“
Grinsend blickte der Koch die spindeldürre Dame an und rieb den Esszimmertisch sorgfältig mit Öl ein. Kurz darauf kam die Blumenfrau, denn Montags war immer Blumenstraußtag. Schon früh am Morgen war die ehrenamtliche Mitarbeiterin bei einem holländischen Markthändler gewesen und hatte für 17 Euro 40 Rosen und zwölf Sonnenblumen erstanden – eine Rose für jedes Zimmer. Die restlichen Blumen band sie zu einem Strauß zusammen und stellte ihn neben das blau eingefasste Kondolenzbuch. „Ohne diese Frau“, hatte Katharina Minnie einmal verraten, „wäre das Projekt Blumenstrauß zwar nicht in Gefahr, aber dank ihrer Mitarbeit haben wir mehr Zeit für die Bewohner und für das Projekt Liebe.“
Kostja indes trug eine Schoko-Walnuss-Torte und Grießmousse mit Kirschkompott ins Esszimmer. „Hoffentlich treffen wir uns im Paradies wieder“, sagte Omi mit strahlenden Augen, und schob zwei Stücke der Schokotorte auf ihren Teller.
„Klärchen, ich wundere mich immer darüber, dass Sie nicht zunehmen“, meinte Nadine. Während die junge Mutter von Fee ins Esszimmer geschoben wurde, fragte sie: „Geht es Sonja schlechter? Ich habe sie schon ein paar Tage lang nicht mehr gesehen.“
„Sie wird wohl der nächste Abgang sein“, erklärte Bruno.
„Ist sie eigentlich mit Hepatitis C infiziert?“, erkundigte sich Nadine neugierig. „Das hatte ich auch mal. Solche Co-Infektionen sollen den Ausbruch von Aids enorm verschlimmern. Andererseits…“ – die Augen der jungen Frau wanderten zu Marius Stamm – „ist Sonja eine echte Kämpferin. Ganz anders als ich. Mir geht der Arsch auf Grundeis, wenn ich sie sehe. So krumm und dünn möchte ich nie werden.“ Nachdenklich probierte sie vom Grießmousse, schob es dann aber beiseite – und entblößte beim Kauen eine Mundhöhle voller Zahnlücken.
„Hast Du keinen Hunger, Mama?“, fragte Fee, steckte sich einen Schnuller in den Mund und blätterte in einem Kinderbuch, das ihr Dr. Albers geschenkt hatte. Ente, Tod und Tulpe , las Minnie.
„Doch, Liebling“, antwortete Nadine. „Aber Mama hat zu viele Zähne verloren, und die falschen tun ihr weh. Vielleicht sollte ich besser was Weiches wie Austern schlürfen…“ Die junge Mutter strich ihrer Tochter über den Kopf. „Erinnerst Du Dich noch daran, als wir auf der Straße lebten und von einer feinen Dame zum Austernschlürfen eingeladen wurden? Das erlebt nicht jeder!“ Ihre Hand wanderte zu einem sichtbaren Knoten an ihrem Hals. Und, als wäre niemand außer ihr anwesend, sagte sie: „Von diesen komischen Beulen habe ich immer mehr.“
Nadines Worte hallten nach, bis die Stille im Esszimmer von einem wohlgelaunten Ausruf unterbrochen wurde.
„Hallo allerseits!“ Marisabels Gestalt tauchte im Türrahmen auf. „Das duftet ja unglaublich gut. Ich konnte bis oben riechen, dass es Schokotorte
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