Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
gibt!“ Die Hundezüchterin reckte sich, streckte ihre Arme aus und lächelte zufrieden. „Ich habe geschlafen wie ein Engel!“
Verwundert nahm Minnie wahr, dass sich Marisabels Laune in nur zwei Stunden um 180 Grad verbessert hatte. Doch schon im nächsten Moment kippte die Stimmung.
„Sie sitzen ja auf meinem Platz!“ Ärgerlich fixierte Marisabel Bella, deren Hautfarbe im Gegenlicht plötzlich gelblicher aussah als am Vormittag. Ehe die Schönheitskönigin den Mund öffnen konnte, konterte Bruno. „Hier gibt es keine festen Sitzplätze, Frau Prinz. Das habe ich Ihnen schon mehrfach gesagt – und es gilt auch für Sie!“
„Aber ich bin morgens immer die Erste bei Tisch, und ich sitze immer vor Kopf“, protestierte die Hundezüchterin. Ihr Blick war starr auf Bella gerichtet. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, stemmte sie ihre Hände fordernd in die Hüften. Bella rückte ein Stück zur Seite.
Die Hundezüchterin ließ sich triumphierend, aber dennoch verstimmt auf dem freien Platz nieder. Ihre Bewegungen waren langsamer als früher. „Lebt in Haus Holle eigentlich noch ein Gast, den wir nicht kennen?“, fragte sie den runzligen Bruno.
„Kommt drauf an, wen Sie gesehen haben, Frau Prinz. Zwei unserer derzeitigen Gäste stehen ja nie auf. Oder meinen Sie vielleicht einen Angehörigen oder einen Arzt?“
Die blassblauen Augen der Hundezüchterin starrten auf den Schokokuchen. „Nein… Manchmal glaube ich, dass hier noch jemand ganz anderes wohnt… Manchmal sehe ich eine unheimliche Gestalt, die mir Angst einjagt…“ Marisabel schüttelte ihren Kopf, als wolle sie ein Hirngespinst loswerden. „Vielleicht habe ich mir das nur im Halbschlaf eingebildet.“
Minnie blickte interessiert auf. Spielte Marisabel vielleicht auf den rätselhaften Mann mit der kindlichen Statur an, den sie selbst zweimal gesehen hatte?
Frau Prinz redete weiter. „Manchmal sehe ich nachts ein Kind mit einer Maske. Irgendwie erinnert mich diese Gestalt an einen Engel. Ist das nicht verrückt?“
„Kommt drauf an, ob man daran glaubt“, antwortete Bruno. „Ich habe noch keinen Engel gesehen.“
Damit gab sich Marisabel zufrieden, und starrte unschlüssig auf Kostjas Torte. Doch sie legte die Gabel bereits nach einem einzigen Bissen beiseite. „Schmeckt nach nichts“, sagte sie mürrisch. „Der Kaffee ist auch widerlich. Es fühlt sich an, als würde der Zu cker auf meiner Zunge brennen.“ Einer plötzlichen Eingebung folgend, bestellte die Hundezüchterin ein kaltes Bier und prostete der Runde zu: „Vorgestern habe ich festgestellt, dass das Wunder gegen meinen trockenen Mund wirkt.“ Sie wurde wieder lockerer, und die Gäste begannen ein Gespräch über Bücher.
„Ich lese gerade Die Hütte von William Adolf Young“, sagte Marisabel. „Das hat mir eine Freundin empfohlen. Es geht um die Frage, warum Gott Leid zulässt.“
Auch Bella Schiffer zog ein Buch hervor. „Dieses Buch heißt Das heilende Bewusstsein . Darin erzählt der Autor Joachim Faulstich Geschichten von Menschen, die von den Ärzten schon abgeschrieben worden waren, und trotzdem geheilt wurden. Mir hat es sehr geholfen.“
Minnie musterte die Lektüre. Das Buchcover zeigte ein fliegendes Pferd und trug den Untertitel Wunder und Hoffnung an den Grenzen der Medizin .
„Glauben Sie an Wunder?“, fragte Marius.
„Ich erhoffe mir eines“, antwortete Bella. „Auf jeden Fall hat mir das Buch geholfen, besser zu verstehen, dass für meine Heilung nicht allein mein Körper verantwortlich ist, sondern auch mein Geist.“
Sie spielte mit einer Zigarette . „Wenn ich diese Krankheit überlebe, werde ich anschließend reif sein für den Psychologen. Momentan ziehe ich meine ganze Kraft aus meiner Hoffnung und aus der Zuneigung von lieben Menschen. Kürzlich sagte ein kleines Nachbarkind zu mir: Bella, Du darfst die Augen nicht schließen. Bitte kriege keine kleinen Augen .“
Minnie musterte das Gesicht der Schönheitskönigin. Unter Bellas Rouge schimmerte die Haut tatsächlich gelb. Außerdem glaubte Minnie, dass sich ein roter Ring um Bellas Hals gebildet hatte. Doch sie war sich nicht ganz sicher. Die alte Dame kniff die Augen zusammen. Bella bemerkte das und fuhr sich mit der Hand an den Hals. „Seit gestern habe ich eine Gürtelrose hier oben“, seufzte sie kläglich. „Ich mag mich gar nicht mehr im Spiegel ansehen.“
„Hauptsache schön, stimmt’s, Frau Schiffer?“, fuhr Marisabel Prinz dazwischen. „Ich habe mir
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