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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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als mein Waldi und ich Gassi auf dem Friedhof gingen. Kurz darauf starb mein Sohn Arndt am Weihnachtsmorgen, mit nur 41 Jahren. Der Lungenkrebs hat mir meinen Sohn genommen.“
    „Hat er geraucht?“, fragte Annette.
    „Ja, sogar sehr viel. Irgendwie hat er den Militärdienst nicht verkraftet. Außerdem war er in schlechte Gesellschaft geraten. Arndt wurde Matrose, und trieb sich ständig in Spelunken herum. Manchmal frage ich mich, ob er mir nicht verziehen hat, dass ich zu meinem zweiten Mann ins Haus gezogen bin. Oder ob ich bei Sonja und ihm irgendetwas falsch gemacht habe.“
    „Sie haben Ihr Leben gelebt, wenn ich es richtig verstehe“, sagte Marius. „Oder haben Sie Gewissensbisse?“
    „Das nicht“, antwortete Hildegard ehrlich. „Aber man macht sich so seine Gedanken. Vor allem, als ich in Sonjas Handtasche diese furchtbaren Brühwürfel fand. Zu jener Zeit machte sie noch eine Ausbildung zur Verkäuferin bei H&M. Die Brühwürfel ließ ich heimlich im Botanischen Institut analysieren. Ich wollte unbedingt wissen, was es damit auf sich hat.“
    Marius sah sie fragend an. „Waren es Drogen?“
    „Ja“, sagte Hildegard. „Kurz darauf ging es immer mehr bergab mit Sonja. Zwar wurde sie noch einmal schwanger, und ich glaubte, nun würde sich alles zum Guten wenden. Aber meine Sonja erlitt eine Totgeburt. Später habe ich mal einen Priester gefragt, warum ich all das mitmachen musste. Er meinte bloß, dass Gott die guten Menschen immer früh zu sich holen würde. Daraufhin bin ich aus der Kirche ausgetreten.“
    Die Tischrunde schwieg bedrückt.
    Hildegard jedoch war noch nicht fertig mit den Erzählungen über ihre Vergangenheit. „Vor drei Jahren sackte mein zweiter Mann plötzlich im Bad zusammen. Wir brachten ihn sofort in eine Klinik, wo er kurz darauf starb. Seltsamerweise habe ich weder Hugo noch Arndt noch meinen zweiten Mann noch Sonjas Baby nach ihrem Tod gesehen. Die Ärzte haben mir keinen gezeigt.“
    Mit einem Mal verstand Minnie, wie hart Hildegard Merkels Leben gewesen war. Nun stand der kleinen Dame mit dem großen Herzen ein weiterer Abschied bevor. Sie meisterte ihn mit Bravour und unerschütterlichem Humor. Gestern erst war sie ins Hospiz gekommen, und hatte eine lustige Anekdote von einem selbstgestickten Katzenbild erzählt: „ Ich wollte es schön machen lassen, ging zu einem Rahmenmacher und sagte: ‚Ich möchte meine Muschi einrahmen lassen.“ Der Tod hatte Hildegards Leben immer überschattet. Doch ihre Lustigkeit hatte er ihr nicht stehlen können.
    „Und jetzt auch noch Sonja“, sagte Minnie. Die quirlige alte Dame war ihr sehr ans Herz gewachsen.
    „Und jetzt auch noch Sonja“, wiederholte Hildegard. „Sie liegt da mit ihren Puppen. Dieses blöde HIV.“
    „Hat sie nicht Aids?“, fragte Bella.
    „Das sind  zwei unterschiedliche Dinge“, erwiderte Hildegard. „Sonja hat kein Aids, nur HIV. Vor ein paar Monaten versagten ihre Nieren. Anschließend lag sie ein Jahr lang in der Klinik. Und jetzt – Sie kennen sie ja selbst.“
    „Wenn Sie möchten, setze ich mich gern mal zu Ihnen an Sonjas Bett.“ Minnies Angebot war ehrlich gemeint und erstaunte sie selbst. Die junge, krumme Frau sah erschreckend aus, doch von Bruno wusste Minnie, dass manch anderer an Aids Erkrankter noch schlimmer dran war. „Einmal“, so hatte ihr der Pflegehelfer vertraulich verraten, „lag hier ein junger Mann, bei dem sich die ganze Haut ablöste. Er hatte überall offene Wunden. Er schenkte mir seine Schuhe. Ich durfte sie mitnehmen, als er tot war.“
    Die alte Dame schauderte. Sie konnte Sonjas Sterben kaum mit ansehen. Wie schlimm musste das erst für Hildegard sein.
    „Glauben Sie denn noch an Gott?“, fragte Montrésor Mutter Merkel.
    „Ich? Nein! Wie könnte ich? Wie kann es ein Gott zulassen, dass mir zwei Männer, ein Sohn, ein Enkelkind und eine Tochter genommen worden sind? An Gott glaube ich nicht mehr, seit er einen so guten Mensch wie meinen Hugo zu sich geholt hat. Bloß ich – ich bleibe und bleibe und bleibe. Manchmal sagen meine Nachbarn: Dass Du noch so lachen kannst! Aber soll ich nur weinen?“ Sie schüttelte die weißen Locken. „Bruno ist mir am meisten ans Herz gewachsen. Er kann am besten mit Sonja umgehen. Aber ich sehe auch, dass sein Beruf sehr anstrengend ist. Einmal wollte ich Sonja aus dem Bett in den Rollstuhl tragen. Aber sie wiegt ja so viel! Bruno hingegen kann sie ganz einfach auf den Arm nehmen. Sogar nach Hause hat er sie noch gebracht:

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