Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
gut, und ich werde hier wahrscheinlich noch einige Monate leben. Dieser nette Psychologe, Dr. Albers, erklärte mir, dass bei mir zwar kein dringender Aufnahmebedarf bestünde, aber dass ich es hier besser haben würde als in jedem guten Hotel.“
„Das verstehe ich nicht“, entgegnete Marisabel naserümpfend. „Sind Sie nun todkrank oder nicht?“
„Ist das nicht eine Frage der Perspektive?“, fragte Marius augenzwinkernd. Dann jedoch kam er der Hundezüchterin charmant entgegen. „Natürlich verstehe ich, was Sie meinen, und natürlich bin ich nicht grundlos hier. Ja, ich habe Krebs, und ja, ich werde ich nicht überleben. Vielleicht geht es schnell, bis der Tod an meine Tür anklopft, doch höchstwahrscheinlich lebe ich noch länger als ein halbes Jahr. Zwar wurde ich von meiner Krankheit überrumpelt, aber ich befinde mich noch nicht auf den letzten Metern des Lebens. Ich werde die familiäre Atmosphäre dieses Hauses in vollen Zügen genießen und es mir gut gehen lassen. Mit dieser Einstellung befolge ich einen Ratschlag des Haus-Psychologen. Er hat mich vor meinem Einzug in der Klinik besucht. Seine tröstenden Worte werde ich niemals vergessen. Sie lauteten so: Unser Haus ist so klein und die Strukturen so familiär, dass wir uns wünschen, dass ein neuer Gast eher kommt als wenige Wochen vor seinem Tod – und hier noch eine richtig gute Zeit erlebt. Krebskranke sollten sich ein Beispiel an HIV-Patienten, die auf den Tod zugehen, nehmen. Denn Tumor-Patienten werden oft von ihrer Krankheit überrumpelt, während sich schwerstkranke HIV-Patienten länger und eher damit auseinandersetzen, dass sie sterben müssen – und häufig auch schon früher ins Hospiz kommen .“
„Für meinen Geschmack ist das morbide“, sagte die Hundezüchterin empört. „Als Halbgesunder geht man doch nicht in ein Hospiz! Geschweige denn, dass man jemand anderem den Platz wegnimmt! Wie können Sie es bloß ertragen, zu sehen, wie andere Menschen sterben?“ Sie fuhr sich in die roten Locken. „Ich bin erst 59 – und wohne seit Wochen hier. Seither sind die Menschen gestorben wie die Fliegen. Irgendwann habe ich sogar darüber nachgedacht, nicht mehr mitzuzählen. Aber die Kerze brannte immer wieder neu. Jedes Mal, wenn ich das sah, dachte ich: Ob man sie wohl als nächstes für mich anzünden wird? Dann jedoch war wieder ein anderer dran. Inzwischen habe ich regelrecht ein schlechtes Gewissen, dass es mich immer noch gibt. Es ist zum Heulen! Andererseits will ich unbedingt 60 werden. Das ist mein erklärtes Ziel.“
„Meine Verehrteste“, sagte der alte Herr besänftigend. „Ich bin austherapiert. Doch ich will noch einmal leben! Und das so ausgiebig wie möglich.“
Augenzwinkernd wandte er sich Minnie zu. „Was geht in Ihrem schönen Kopf vor, meine Liebe?“
Bislang hatte Minnie kein Wort beigesteuert, aber sie konnte Marius Stamms Haltung sehr gut verstehen. Natürlich setzte sich der alte Mann mit seiner Krankheit auseinander. Und wo könnte er besser lernen, was auf ihn zukam, als in diesem Haus mit der Kerze?
Als sich ihr Mund öffnete, sagte sie etwas völlig anderes: „Wir haben am selben Tag Geburtstag.“
Verblüfft blickte Marius sie an. Er lachte schallend und klopfte sich beidhändig auf die Schenkel. „Unmöglich, meine Liebe! Darauf müssen wir anstoßen! Sie trinken doch Champagner? Ich habe einen hervorragenden Clos de Mesnil, Jahrgang 1990, in meinem Zimmer. Lassen Sie den Korken heute Abend gemeinsam mit mir in die Freiheit fliegen?“
Minnie bejahte erfreut, während die Hundezüchterin sich beleidigt abwendete. „Was soll das werden? Noch einmal richtig Karneval, weil Karfreitag ja schon vor der Tür steht?“
„Genau“, antwortete Marius. „Widde widde.“
Zwei Stunden später, zur Mittagszeit, sah Minnie Marius wieder.
Omi und Mutter Merkel, die beide an seinen Lippen klebten, umrahmten den alten Galan. Klärchen Krause hatte sogar ihr Essen vergessen. Dabei war ihr Teller randvoll mit Coq-au-vin – einem Klassiker von Kostja.
Minnie beobachtete die Idylle unbemerkt. Welch schönes Bild! Nie zuvor hatte Omis blonde Perücke so akkurat gesessen. Ihr Haar war sogar gescheitelt. Dann jedoch sah die alte Dame Klärchens Hand. Sie ruhte auf Marius’ Knie. Beseelt hörten die alten Damen sich an, was Marius erzählte – von Reisen, Büchern und: Freimaurern.
„… und ja, ich gehöre zu einer Loge. Wissen Sie, was das Schönste an den Freimaurern ist? Unser Blick ist
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