Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
meiner Sicht ist die Diskriminierung einfach nur traurig…“
„Natürlich“, antwortete Mike betreten. Er hatte schon mehrfach gehört, dass Zahnärzte, die es besser wissen müssten, einem HIV-Patienten einen Termin am Ende eines Tages gaben, um die Praxis anschließend von Grund auf zu reinigen. Es war völlig übertrieben. Immer mehr HIV-Patienten hatten eine völlig normale Lebenserwartung. In Deutschland gab es längst eine Generation, die mit HIV aufs Rentenalter zuschritt und völlig gesund war. Trotzdem konnte er nicht verleugnen, dass sich jährlich zu viele Jugendliche mit HIV infizierten, weil sie die Schreckensbilder der Achtziger Jahre, als Rock Hudson und Freddy Mercury sich mit dem Virus angesteckt hatten, nicht mehr kennengelernt hatten. Deshalb warnten die Aidshilfen davor, die Krankheit auf die leichte Schulter zu nehmen. Mitunter waren die Nebenwirkungen der täglich zum gleichen Zeitpunkt einzunehmenden, antiretroviralen Medikamente, deren Wirkstoffe 1996 entdeckt worden waren, noch immer schwer. „Ihr Neffe ist ein ganz schöner Dummbatz“, sagte er deshalb. „Aber ich kann ihn auch verstehen. Er lebt eben in einer anderen Welt.“
„Ja – nicht wahr? Spielt sich auf, als sei er Gott. Wirft Sonja vor, sie sei unnütz, während er nur seine Familie schützen wolle. Meine kleinen Großnichten sind so verängstigt, dass sie Sonja schon seit Jahren meiden. Als ob HIV und Aids die Pest wären! Oder als ob die Krankheit nur Drogensüchtige und Schwule beträfe. Die Heterosexuellen sind doch keinen Deut besser, was Safer Sex betrifft. Andauernd wird ein Promi schwanger. Nehmen wir nur Boris Becker und seinen Sex in der Besenkammer. Der hat doch bestimmt nicht vor dem Bumsen gefragt, ob Angela Ermakova einen HIV-Test vorzeigen kann. Nein, wer Drogensüchtige und Schwule verteufelt, hat ein anderes Problem. Für diese Menschen ist Aids ein toller Vorwand, um seine schon immer vorhandene Abscheu vor dem Anderen zu rechtfertigen. Diskriminierung ist das!“
„Langsam, Hildegard“, sagte Bruno, der wieder ins Zimmer getreten war. Mike und Mutter Merkel hatten sein Eintreten nicht bemerkt, weil Sonjas Tür sich dank eines um den Knauf gelegte n Handtuchs lautlos öffnen ließ. „Zwar hast Du recht mit der generellen Diskriminierung, aber ich verstehe Horst auch! Einem drogensüchtigen Menschen wie Sonja, der nicht in der Lage ist, seine Medikamente einzunehmen, kann man als Vater von Kindern nicht vertrauen. Schließlich war sie durch das Heroin völlig benebelt. Ich hätte meinen Nachwuchs auch nicht mit ihr allein gelassen. Da hat sich wohl im Laufe der Jahre eine ganze schöne Hemmschwelle aufgebaut. Und – ehrlich gesagt - ist Sonja inzwischen hochinfektiös. Seit sie ihre Tabletten nicht mehr nimmt, wird die Virenlast mit Sicherheit in extreme Höhen geschossen sein. Doch küssen“ – er näherte sich der Kranken und drückte seine Lippen zwei Sekunden lang auf ihren Mund – „kann man sie trotzdem bedenkenlos.“
Sonja lächelte selig.
„Ja, Du willst eine Zigarette, nicht wahr, meine Kleine?“, sagte der Pflegehelfer, zündete sich selbst eine an, und ließ Sonja dreimal daran ziehen.
„Du bist ein Guter , Bruno“, sagte Hildegard. „Für Dich backe ich gern einen Eierlikörkuchen.“
„Wollt Ihr Kaffee?“, fragte Bruno. „Ich flitze nochmal los, komme aber gleich wieder. Sonja braucht – das rieche ich – dringend frische Windeln…“
„Ja-ha“, antwortete Hildegard. Sie blickte erschrocken auf ihre Uhr. „Ui, heute habe ich mir mein Insulin noch gar nicht gespritzt. Dabei möchte ich doch Zucker im Kaffee haben!“ Sie kramte ein Set für Diabetiker aus ihrer Handtasche und pikste sich in den Finger.
„Ganz schöne Scheiße mit der Diskriminierung“, sagte Mike. „Und was hatte der alte Knopinski damit zu tun?“
„Es war widerlich“, empörte sich Hildegard. „Er hat verlangt, dass Sonja nicht mehr an den Mahlzeiten teilnehmen solle. Eine Schande fürs Auge sei sie, und eine Gefahr für alle. Gott sei Dank hat die Hospizleitung kräftig auf den Tisch gehauen und ihn ausgebremst. Dr. Albers hat sich den Alten richtig zur Brust genommen. Anschließend grummelte Knopinski nur noch. Dann gab’s eine offizielle Ansprache vor den anderen Damen und Herren – und der Psychologe hat allen Gästen erklärt, dass HIV-Kranke bevorzugt in Haus Holle aufgenommen und gepflegt werden, und dass keiner auf die Idee kommen solle, sich als was Besseres zu fühlen. Aber
Weitere Kostenlose Bücher