Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
Vom Netzwerk:
dieses Gefühl hatte ich bei den anderen Gästen ehe nicht. Egal, ob Frau Prinz oder Frau Schiffer, jeder war stets nett zu Sonja. Sie ist ja auch so eine Liebe. Und mein einziges Kind, das noch lebt…“ Die alte Dame tätschelte die Wange ihrer sterbenskranken Tochter. „Was ich bloß ohne sie anfangen soll?“
    „Was haben Sie gedacht, als der alte Knopinski rief, niemals ein Gesicht zu vergessen? Erinnern Sie sich an seine seltsame Drohung im Esszimmer?“
    „Ach das“, winkte Hildegard flüchtig ab. „Was sollte das überhaupt bedeuten? Der war doch nicht ganz dicht in der Birne! Was bildete der sich eigentlich ein? Als ob er schon mal jemanden aus dem Hospiz gesehen hätte… Das kann doch ohnehin nur jemand aus seiner Altersklasse gewesen sein – und er war doch 96, oder?“
    „Wie alt sind Sie?“, fragte Mike direkt.
    „81“, sagte Mutter Merkel. „Wieso?“
    „Sind Sie Knopinski früher schon mal begegnet? Oder Sonja?“
    „Nicht, dass ich wüsste. Für Sonja kann ich natürlich nicht sprechen. Aber wir können sie ja mal fragen…“ Sie beugte sich über ihr krankes Kind. „Sonja – kanntest Du den alten Mann, der Dich beim Essen so blöd angemacht hat? Hast Du ihn schon einmal gesehen?“
    Ihre Tochter stöhnte leise.
    „Oder bist Du ihm hier im Hospiz zum ersten Mal begegnet?“
    Sonja zog die Beine an.
    „Ich glaube nicht“, sagte Hildegard hilflos.
    Mike indes verstand, dass die junge Frau den alten Mann gar nicht hätte sehen können. Doch vielleicht hatte sie seine Stimme, die stets so bösartig gezischt hatte – und immer asthmatisch keuchte, ja wieder erkannt?
    Er beugte sich über Sonjas Gesicht. „Haben Sie seine zischende Stimme früher schon einmal gehört, Sonja? Kam Sie Ihnen bekannt vor?“
    Sacht hob die junge Frau ihren Kopf. Mike verstand, dass sie ihm etwas mitteilen wollte. Er senkte sein Ohr hinab, bis es ihre Lippen berührte. Als Sonja die Berührung spürte, öffnete sie den Mund und flüsterte einige Worte.
    „Ja, ich kannte diese Stimme. Das war ein richtig böser Mann!“ Sie verdrehte die Augen, und hustete, bis Bruno zurückkam. Um seine Beine sprang ein kleiner Mops im Kreis.
    „Wer ist das denn?“, fragte Mike. „Den habe ich ja noch nie gesehen!“
    „Luna“, antwortete Bruno. „Das ist der Hund der kleinen Fee.“
    Als wäre es das Gewöhnlichste der Welt, hob Hildegard das schwarze Tier hoch – und hielt es ans untere Ende der Bettdecke. Sofort streckte Luna die Zunge heraus und leckte an Sonjas Füßen.
    Die Kranke lachte glücklich.
    Dann sprang der Mops sogar in ihr Bett, zerwühlte die Decke und warf eine Puppe hinaus. Kichernd hob Hildegard sie auf. „Diese Puppe hat Sonja früher immer gedrückt, wenn ich mit ihr geschimpft habe!“ Die alte Dame zog die Bettdecke glatt und deckte Sonja bis zum Kinn zu. „Damit Du Dir keinen Schnupfen holst!“
    „Wie kann es sein, dass ein Mensch so dünn wird?“, fragte Mike Bruno. „Und wieso hält sich Sonja so wacker?“
    „Ganz einfach! Wer im größten Dreck gelebt hat, ist manchmal viel resistenter gegen Bakterien, Viren und Schmutz, als Leute die immer im Elfenbeinturm gelebt haben – wie unsere piekfeinen Damen. Wer sich vor jeder Fluse schützt, kann viel schneller von einem Schnupfen dahin gerafft werden als jemand, der an dreckigen Klobrillen geleckt hat. Sonja würde das nicht passieren, weil ihr Körper schon so viel ertragen hat.“
    Hildegard kicherte erneut. „Ist das wirklich so?“, fragte die alte Dame den Pfleger.
    „Hör’ mal“, antwortete Bruno. „Sonst würde ich es ja nicht sagen! Klar ist das so. Und das weiß ich, weil wir hier früher jede Menge HIV-Patienten hatten, nicht bloß Sonja und Nadine. Erstens kommen die HIVler früher zu uns, weil sie sich schon ewig mit ihrer Krankheit auseinandergesetzt haben – ganz anders als Krebspatienten, die eine x-te Chemo wollen, obwohl sie längst austherapiert sind. Zweitens kommen viele HIVler direkt von der Straße – denk’ mal an all die Obdachlosen und Drogensüchtigen. Wer bei jeder Jahreszeit draußen war, und all das überlebt hat, ist nicht so verweichlicht wie jene Menschen, die immer in Watte gepackt worden sind. Obdachlose haben im Laufe des Lebens auf der Straße so viele Antikörper gegen alle Sorten von Grippen gebildet, dass sie ni cht von einem einzigen Virus umgepustet werden.“
    „Wie viele Menschen haben Sie hier schon sterben sehen?“, fragte Mike.
    „Bestimmt zweitausend“, erklärte Bruno,

Weitere Kostenlose Bücher