Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
der Perspektive Ihrer Mutter symbolisieren Sie vielleicht ein Lied, das im Kreissaal lief, als Sie geboren wurden. Ihre erste Jugendliebe erinnert sich vielleicht an einen Song, bei dem Sie sie zum ersten Mal geküsst haben. Irgendein Arbeitskollege muss immer an Sie denken, wenn ein bestimmtes Karnevalslied läuft, weil Sie irgendwann mal eine Nacht lang auf Kneipentour waren. Lediglich Sie selbst – Sie wissen nicht, welche Lieder all diese Menschen mit Ihnen verbinden. Jeder Mensch ist ein Mix aus unterschiedlichsten Liedern…“
Frau Pellenhorn fixierte ihr Gegenüber. „Weiß Ihr Vater, welchen Song Sie mit ihm verbinden?“
Mike schossen Tränen in die Augen. „Es ist ein altes Lied namens Heimweh “, sagte er bedrückt. „Ein äußerst trauriger Text, den mein Vater manchmal gesungen hat, wenn er mich ins Bett gebracht hat.“
„Wie lautet er?“, fragte Barbara.
Obwohl er jahrelang nicht mehr an die Melodie des melancholischen Textes gedacht hatte, fiel Mike sofort jedes Wort ein. Leise sang er: „Mitten in der Nacht, bin ich aufgewacht und habe geweinet. Oh, Du süßer Stern, du in weiter Fern’, weil Du mein Freund bist: Wenn Du mein Mütterlein siehst, sage ihr nicht, wie’s mir ist, sage ihr nicht was es heißt, Heimweh… Alles rings umher, ist so öd’ und leer, traurig rauscht das Meer – vor Heimweh…“
„Verdammt niederschmetternd“, sagte Barbara. „Und wofür steht Ihre Mutter?“
„ My way “, sagte Mike, „Sie liebt den Song von Frank Sinatra.“
„Sehen Sie – genau so geht es auch allen anderen Menschen. Fast jeder, sogar mancher, den oder die Sie längst vergessen haben, denkt an Sie, wenn er einen bestimmten Song hört. Doch Sie ahnen nichts davon. Wie also sollen wir uns ein Bild von anderen Menschen machen können?“
Sie stand auf, und Mike erhob sich ebenfalls. „Ich will Sie jetzt in Ruhe lassen, Barbara. Richten Sie Ihrem Mann alles Gute aus, sobald er erwacht. Wir sehen uns unten…“
Frau Pellenhorn reichte ihm ihre Hand. „Danke, dass Sie uns besucht haben. Beim nächsten Mal werden wir nur über schöne Dinge reden. Versprochen?“
Mike versprach es.
Er verließ das Zimmer des tief schlafenden Buddhas. Als die Tür ins Schloss fiel, hörte er, dass Barbara Pellenhorn Musik für ihren Mann angestellt hatte. Es war Roger Whittaker und er sang: Du bist getroffen und kannst Dich nicht wehren, Worte sind sinnlos, Du wirst sie nicht hören… Die zwei Liedzeilen aus Whittakers Song Abschied ist ein scharfes Schwert verfolgten Mike bis zu Sonjas Zimmer.
In Zimmer 7 lief Viva . Es war der kleinste Raum des Hauses.
Mutter Merkel putzte gerade Nippes. Davon hatte sich, in der langen Zeit, die Sonja schon in Haus Holle verbrachte, jede Menge angesammelt. Wann immer die alte Dame mit den lustig wippenden Locken zuhause nach Jacke und Tasche suchte, um rasch mit dem Auto zum Hospiz zu rasen, stachen ihr Dinge wie ein kleines Porzellankätzchen, eine Häkeldecke oder ein Foto ins Auge, die sie Sonja noch mitbringen konnte.
So kam es, dass Zimmer 7 überquoll vor persönlichen Habseligkeiten. Es war der kleinste und zugleich vollste Raum.
Mike wurde herzlich hineingebeten.
„Ja, wer ist das denn?“, begrüßte ihn Hildegard. „Schauen Sie mal, ich werde immer dicker vom guten Essen hier.“ Sie lachte und zwinkerte. „Oder ob mich vielleicht etwas angeflogen hat?“
Mike grinste schelmisch. „Stimmt, ich glaube auch, dass Sie schwanger sind, Frau Merkel“, sagte er fröhlich.
„Was da wohl rauskommt?“, fragte Hildegard und grinste.
Nach und nach verstummte ihr Kichern. Unter der Brille ruhten ihre kleinen, wachen Augen ganz auf dem Besucher.
„Wie schön, dass Sie Sonja besuchen.“
Bekümmert ging sie zum Bett ihrer Tochter und gab der Kranken einen innigen Kuss auf die Wange. Mike zog sich einen Stuhl ans Bett. Aus seiner Perspektive hatte Sonjas Zustand nicht mehr viel mit Menschenwürde zu tun. Sie lag verkrampft im Bett, und war bis auf die Knochen abgemagert. Er hatte nicht gewusst, dass Augen so sehr einfallen konnten. Die krumme Kranke war schrecklich dünn.
„Ja-ha“, sagte Hildegard Merkel und wies auf die Fotowand über Sonjas Bett. „Schau mal – ich darf doch Du sagen? Das war Sonja früher!“
Das Bild zeigte ein gesundes, frisches, junges Mädchen mit einer Blousonjacke, Schulterpolstern, Moon-washed-Jeans sowie Stulpen. Offensichtlich war Sonja Merkel vor über 25 Jahren sehr stolz auf ihre hochtoupierten
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