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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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netter junger Mann. Immer saß er mit Sonja im Garten. Obwohl er nichts mehr sehen konnte, hielten die beiden so schön Händchen. Eines Tages war er plötzlich tot – einfach gestorben, von heute auf morgen. Das ist nicht leicht für mein Kind. Momentan sind ja alle stabil… Aber ich habe hier Zeiten erlebt, als alle Gäste nur im Bett lagen. In Haus Holle ändert sich alles innerhalb weniger Stunden. Plötzlich können alle krank sein. Widerlich!“
    „Und manchmal“, sagte Mike besonnen, „sterben sogar zwei Menschen in einer Nacht!“
    „Du meinst das alte Ehepaar?“ Hildegard Merkel putzte die Nase. „Aber das ist kein Verlust! Der alte Mann war widerlich!“
    „Warum?“, wollte der Journalist wissen.
    „Hast Du ihn nie gesehen? Du hättest mal hören sollen, was er zu mir gesagt hat! Vor zwei Wochen traf ich in im Flur. Da ging er direkt auf mich zu, und sagte, ich solle besser Latexhandschuhe anziehen, wenn ich meine Tochter berührte. Ist das nicht unverschämt? Und dann der Ärger mit meinem Wagen. Ständig warf er mir vor, dass mein Golf die Einfahrt versperre, und er seinen Mercedes nicht ausparken könne!“
    „Wie kam er auf Latexhandschuhe?“
    „Na-ja, er meinte, dass Sonja ansteckend wäre. Und dass sich ihre Bakterien durch die Luft verteilen könnten. Wenn meine Frau sich bei ihr was wegholt , rief er bösartig, dann mache ich Sie zur Schnecke! “
    Manchmal war Schweigen der beste Impuls, um ein Gegenüber zum Weiterreden zu bewegen. Man musste es bloß aushalten. Mike spürte instinktiv, dass Hildegard Merkel zu jenen Menschen gehörte, die durch Stille motiviert wurden. Deshalb sagte er kein Wort.
    „Als ob Sonja ansteckend wäre… Ja, sie hat HIV. Aber ich habe mich aufklären lassen. Man kann mit ihr aus einem Glas trinken. Ich habe es immer getan – um ihr zu beweisen, dass ich sie nicht diskriminiere. Viele HIV-Kranke werden nämlich gemobbt. Kennst Du Philadelphia ?“
    Mike wusste, dass die drollige Dame keinen Frischkäse meinte, sondern einen Oscar prämierten Hollywood-Film mit Tom Hanks.
    „Ja, ich habe ihn mehrmals gesehen.“
    „Dann weißt Du ja auch, was HIV-Kranke alles erleiden müssen. Viele ekeln sich vor ihnen. HIV ist das, was früher Syphilis war – eine Krankheit, wegen der Menschen in psychische Isolationshaft genommen werden. Diskriminierung ist das!“
    „Inwiefern wurde Sonja psychisch gemobbt?“, fragte Mike interessiert.
    „Ach, zum Beispiel von ihrem Cousin. Die beiden sind zusammen aufgewachsen. Jetzt, wo er drei kleine Töchter hat, nähert er sich Sonja nur noch mit Samthandschuhen. Dort hängt ein Foto von ihm!“ Hildegard deutete auf ein Bild über dem Bett ihrer sterbenskranken Tochter, das einen circa 45-jährigen Mann, Sonja und drei kleine Mädchen zeigte. Alle lachten in die Kamera. „Horst ist mit uns aufgewachsen“, sagte Hildegard traurig. „Ich habe mich wie eine zweite Mutter um ihn gekümmert, nachdem mein Bruder und seine Frau bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Obwohl ich dafür gesorgt habe, dass er als Waise nicht ins Heim musste, sondern mit Sonja und Arndt aufwachsen konnte, scheint er jetzt vergessen zu haben, was ich alles für ihn getan habe. Er meidet uns regelrecht…“
    Bekümmert blickte sie auf das Foto. „Du musst Dir das mal vorstellen… Da kommt er glatt zu mir, und sagt, ich solle Sonja nicht mehr küssen. Und dass sie eine Gefahr für seine kleinen Töchter sei. Dabei weiß doch jedes Kind, dass HIV-Kranke nicht mal bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr ansteckend sein müssen. Ich habe mir das genau durchgelesen. Wenn HIV-Kranke ihre Medikamente ständig nehmen und ihre Viruslast länger als ein halbes Jahr unter der Nachweisgrenze ist und sie dann ungeschützt Liebe mit einem Partner machen, der von der Infektion weiß, wird das in der Schweiz nicht mehr als versuchter Totschlag oder Mordversuch bestraft. Deutschland ist ebenfalls sehr fortschrittlich, obwohl die arme Sängerin von den No Angels so fertig gemacht wurde. In jedem Medizinbuch, aber auch im Internet steht, dass das Virus nur durch den direkten Austausch von Blut und Samen übertragen werden kann, wenn man seine Medikamente nicht regelmäßig schluckt. Doch was sagt Horst? Dass die Ärzte lügen – um eine Massenpanik zu vermeiden. Dabei hat Sonja niemanden angesteckt, nicht einmal mich. Hier im Hospiz trägt niemand Latexhandschuhe, wenn er Sonja anfasst. Bruno, der völlig gesund ist, küsst Sonja sogar auf den Mund. Aus

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