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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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„Wenn Sie mich fragen, hat sie mindestens drei Kilo verloren. Ich schätze, dass sie nicht mehr wiegt als 35 Kilo.“
    Auffordernd blickte Minnie Mike an – und nickte leicht mit ihrem Kopf. Enttäuscht sah der Journalist auf seine verlockenden Klopse. Andererseits sah er ein, dass es ein günstiger Zeitpunkt war, um der entschwundenen Dame zu folgen und sich nach Omis Wohlbefinden zu erkundigen. Er eilte aus dem Esszimmer.
     
    Schon vor der Tür zu Zimmer 1 hörte er ein lautes Rülpsen.
    Dennoch klopfte Mike an.
    Omi öffnete die Zimmertür nur ein wenig. Der Reporter sah, dass ihre Perücke verrutscht war. „Ach Sie“, sagte die dünne Dame. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
    Flugs improvisierte Mike.
    „Nein – aber kann ich Ihnen helfen? Sie sind so schnell vom Tisch verschwunden.“
    „Ach, das“, entgegnete Klärchen. „Mir ist etwas übel. Mein Magen verselbständigt sich anscheinend.“ Sie bat den Journalisten hinein.
    Mike betrat ein aufgeräumtes Zimmer. Omi hatte kaum persönliche Gegenstände mitgebracht. Es gab nicht mal Blumen. Dafür waren überall im Zimmer halbvolle Essensteiler verteilt.
    Omi deutete den Blick des Reporters richtig. „Das sind alles Speisen von Kostja, die ich noch nicht essen konnte“, sagte sie trotzig. „Wenn mich nachts der Hunger überfällt, gönne ich mir manchmal ein Brot. Oder eine dieser spanischen Würstchen, die wirklich hervorragend sind. Haben Sie die schon mal probiert?“
    Ohne sich seinen Ekel anmerken zu lassen, verneinte Mike, und nahm auf dem einzigen freien Stuhl Platz – direkt neben drei Köpfen von Schaufensterpuppen, von denen eine haarlos war und die beiden anderen eine schwarze Pagenkopfperücke und eine rote Dauerwellenperücke trugen. Daneben lagen eine große Bürste, ein Kartoffelschälmesser, Wollknäuel in allen Farben – und: ein durchsichtiges, schwarzes Negligé.
    Auch Klärchen starrte auf ihre Perücken. „Wissen Sie, dass ich meinen unterschiedlichen Kunsthaaren Namen gegeben habe? Die blonde Perücke heißt Olivia , die schwarze Omaira und die rote Oje-Oje . Wie finden Sie das?“
    „Ein bisschen verrückt“, meinte Mike. „Aber sie stehen Ihnen gut!“
    „Nicht wahr?“ Omi kicherte. „Hoffentlich lauscht niemand an der Tür. Er könnte noch glauben, dass wir…“ Sie ließ die Worte im Raum verhallen. Mike verstand ihre Andeutung. Klärchen hatte sexuelle Phantasien. Außerdem sc hwitzte die spindeldürre Dame. „Ist das heiß hier!“, sagte sie plötzlich. „Mir ist, als sei ich regelrecht klitschnass.“
    Mike bemerkte, dass sie tatsächlich tropfte. Unter der Perücke bildeten sich feine Rinnsale, die Achseln waren bereits fleckig.„Vielleicht ist gerade nicht der beste Zeitpunkt für einen Besuch“, meinte Omi. „Es sei denn, dass es Sie nicht stört. Aber ich schwitze manchmal nach dem Essen. Doch keine Angst, es ist kein Fieber. Und schon gar nicht ansteckend. Die scharfen Speisen verbrennen das Gift in meinem Körper – und es fließt aus mir heraus. Oder stört es Sie vielleicht doch?“
    „Sie haben aber gar nichts Scharfes gegessen“, korrigierte Mike. „Oder irre ich mich da?“
    „Natürlich war mein Essen pikant!“ Omi meckerte. Sie war deutlich ungehalten. „Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, dass ich mir von Kostja besondere Speisen zubereiten lasse? Heute gab es rote Suppe – also waren rote Chili drin.“ Zweifelnd sah sie den jungen Mann an.  „Ich meine, wenn die Suppe rot ist, dann muss sie doch scharf gewesen sein. Oder?“
    „Natürlich – das habe ich nicht bemerkt.“
    Mit einem Mal verstand der Journalist, dass Omis Geschmacksnerven völlig zerstört waren. Er ahnte, dass ihre Farbspiele – mit den Perücken und ihren Speisen – ihre fehlenden Sinne ersetzten. Aß sie eine grüne Suppe, ließ sie das glauben, dass Kostja sie mit besonders vielen Brokkoli versetzt haben musste. War ein Vitamindrink leuchtend gelb, hatte Kostja zehn Zitronen ausgepresst – zumindest glaubte Omi das.
    Die nächste Frage brannte Mike unter den Nägeln. Doch er wusste nicht, wie er sie stellen sollte. Also fragte er geradeaus. „Warum sind Sie eigentlich hier?“
    „Weil die Ärzte nichts mehr für mich tun können. Ich hatte die Hoffnung auf meine Genesung schon aufgegeben. Doch seit ich in Haus Holle bin, geht es wieder aufwärts mit mir. Auch wenn, das gestehe ich gern, nicht alles nach Plan läuft. Noch bin ich nicht richtig bei Kräften. Noch schwitze ich nach den scharfen Speisen.

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