Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
und zündete sich eine Zigarette an. „Wie gesagt: Anfangs waren hier nur Aidskranke – damals, als die Krankheit ausbrach. In den Achtziger Jahren lagen hier plötzlich unglaublich viele Bekannte, die ich aus der Szene kannte. Alle starben wie die Fliegen. Ich hingegen war plötzlich nicht mehr willkommen in den Clubs, denn mir haftete der Ruf eines Todesengels an. Das war eine schwierige Zeit für mich. Noch heute wechseln manche Leute die Straßenseite, wenn sie mich sehen.“
Hildegard Merkel unterbrach ihn. „Warum sind hier heute mehr Krebspatienten als Aidskranke“?
„Weil die Forscher neue Medikamente erfunden haben“, erklärte Bruno. „Zuerst kam AZT auf den Markt. Das war ein schon 1964 erfundenes Krebsmedikament, das sich als wirksam gegen HIV entpuppte. Allerdings hatte es schlimme Nebenwirkungen: Blutarmut, Appetitlosigkeit, starke Übelkeit und Erbrechen. 1996 gelang schließlich der entscheidende Schlag gegen die Seuche – als die noch heute wirksamen, so genannten antiretroviralen Medikamente die Zahl der Viren unter Null drückten. Plötzlich standen Menschen, die schon im Sterben lagen, wieder auf. Sie verließen die Zimmer von Haus Holle und gingen wieder zur Arbeit.“
„Aber warum klappt das nicht bei Sonja?“ Hildegard blickte auf ihre Tochter.
„Weil sie die Medikamente nicht immer genommen hat“, antwortete Bruno und legte seine warme Pranke auf Mutter Merkels Schulter. „Damit die Medikamente wirken können, müssen sie ständig zur gleichen Uhrzeit genommen werden. Schon ein einmaliges Aussetzen kann zur Folge haben, dass die Viren resistent werden und zu guter Letzt nichts mehr hilft. Dann können so genannte Co-Infektionen auftreten – Pilze im Mund, Haare auf der Zunge, Schlaganfälle und Lungenentzündungen. Dann ist das Immunsystem derart im Keller, dass schon eine Grippe ausreicht, um einen HIV-Kranken mit niedriger Helferzellenanzahl dahinzuraffen.“
„Lauter reizende alte Damen“, dachte Mike, als er eine Stunde später ins Esszimmer kam. Vereint – und in ungewohnter Harmonie – umringten Minnie, Omi und Mutter Merkel Marius, den Kavalier, während sich Marisabel und Bella von den entgegengesetzten Tischenden in hochgespielter Feindschaft anstarrten. Offensichtlich war ihre Meinungsverschiedenheit immer noch nicht beigelegt: Die schöne Bella konnte der Hundezüchterin nicht verzeihen, dass sie die Tischrunde lauthals über deren heimlichen Männerbesuch informiert hatte. Umgekehrt war Frau Prinz wütend über Frau Schiffers Vorwurf, dass sie ständig quengele.
Die anderen indes – Adolf, Annette und Angie – genossen Königsberger Klopse, während Barbara Pellenhorn ihrem Mann einen weichen Brei anreichte .
Marius Stamm unterhielt die Damenrunde gekonnt. Vor allem Omi kam kaum zum Essen. Sie ließ den halben Teller voll, strich sich über den Bauch und rülpste vernehmlich. Fast schien es, als habe die spindeldürre Dame noch mehr abgenommen, doch Mike war sich nicht ganz sicher. Trotzdem hatte Omi allerbeste Laune, denn die Tischrunde redete gerade über Träume.
„Letzte Nacht“, verriet Omi, „habe ich von Tänzern geträumt, die über das Parkett fegten wie Derwische. Dazu spielten Teufelsgeiger. Es war eine Stimmung – feuriger als in der Hölle. Hoch über den Köpfen der Männer balancierten Trapezkünstler. Auch ein kindlicher Greis schwang die Hüften. Ein Zirkus war das, ein Karneval. Und Sie waren mittendrin, lieber Marius!“ Sie rülpste erneut – und strich sich ärgerlich über den Bauch. „Was ist bloß los mit meinem Magen?“
„Vertragen Sie das Essen nicht?“ Marisabel sah sie skeptisch an.
Omi wollte gerade antworten, doch dann meldete sich ihr Magen noch lauter zu Wort. Schlechtgelaunt starrte sie auf ihre Hände, die den plötzlich aufgeblähten Bauch streichelten. „Was…“, begann sie, und verstummte, denn ein sichtbarer Krampf zog ihren Oberkörper ein Stück nach unten. „Ich gehe besser mal nach oben!“ Rasch entfernte sich Klärchen Krause vom Tisch.
„Was war das denn?“ Erstaunt starrte die Hundezüchterin in den leeren Gang, der Omi verschluckt hatte.
„Sodbrennen“, sagte Marius Stamm. „Magensäure vom Allerfeinsten!“
„Hat sie etwa abgenommen – obwohl sie schlingt wie ein Scheunendrescher?“ Marisabel Prinz konnte es nicht fassen. „Mir war, als wäre sie dünner geworden.“
„Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass sie schon seit Tagen schlechter isst?“, bemerkte Bella Schiffer.
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