Die Flucht der Königin: Die Chroniken des Magnus Bane (02) (German Edition)
schneller zu schlagen. Axel besaß einen Schlüssel zu den Privatgemächern der Königin. Diese Vorstellung war gleichermaßen aufregend wie verstörend.
Da war sie – Königin Marie Antoinette. Er hatte schon viele Gemälde von ihr gesehen, doch nun stand sie ihm gegenüber wie ein ganz normaler Mensch. Das war das Schockierendste daran. Die Königin war ein ganz normaler Mensch im Schlafgewand. Sie hatte etwas Bezauberndes an sich. Zum Teil war das zweifelsohne auf ihre Erziehung zurückzuführen – ihre königliche Haltung und die kleinen,zierlichen Schritte. Die Gemälde waren nie ihren Augen gerecht geworden, die groß waren und leuchteten. Ihr Haar war leicht gewellt und lag wie ein sorgfältig frisierter Heiligenschein um ihren Kopf; darüber trug sie eine leichte Leinenhaube. Magnus blieb im Schatten und sah zu, wie sie in ihrem Zimmer auf- und abschritt, vom Bett zum Fenster und wieder zurück zum Bett. Sie war eindeutig außer sich vor Sorge um ihre Familie.
»Sie bemerken mich nicht, Madame«, sagte er leise. Bei seinen Worten drehte sich die Königin um und blickte verwirrt zur Zimmerecke, dann nahm sie ihre Wanderung wieder auf. Magnus trat näher und nun konnte er sehen, dass die Anspannung der vergangenen Wochen und Monate der Frau zugesetzt hatten. Ihr Haar war dünn und ausgeblichen und an einigen Stellen brüchig und grau. Dennoch lag auf ihrem Gesicht ein grimmiger, entschlossener Ausdruck, für den Magnus sie bewunderte. Er konnte sehen, warum Axel Gefühle für sie hegte – von ihr ging eine Kraft aus, die er niemals erwartet hätte.
Er wedelte mit den Fingern, bis blaue Funken zwischen ihnen aufblitzten. Wieder drehte sich die Königin verwirrt um. Magnus ließ seine Hand an ihrem Gesicht vorbeigleiten, und mit dieser Bewegung verwandelte sich ihr Aussehen von der allseits bekannten Königin zu einem ganz normalen Allerweltsgesicht. Ihre Augen wurden kleiner und dunkler, ihre Wangen voller und stark gerötet, ihre Nase wuchs ein ganzes Stück und ihr Kinn wich zurück. Ihr Haar hing nun schlaff herunter und nahm ein dunkles Haselnussbraun an. Auch wenn es eigentlich nicht nötig war, ging Magnus sogarnoch ein bisschen weiter und veränderte auch ihre Wangenknochen und Ohren so, dass niemand mehr die Frau, der er gegenüberstand, für die Königin halten würde. Sie sah aus, wie sie aussehen sollte: wie eine russische Adlige, die nicht nur ein anderes Alter hatte, sondern ein vollkommen anderes Leben führte als die Königin.
Er verursachte ein Geräusch in der Nähe des Fensters, um sie abzulenken, und sobald sie sich von ihm abgewandt hatte, huschte er aus dem Raum. Er verließ den Palast durch einen stark frequentierten Ausgang hinter den königlichen Gemächern, wo die Königin ein Törchen für Axels nächtliche Auftritte und Abgänge offen hielt.
Sein nächtlicher Auftrag war zu seiner vollen Zufriedenheit geraten: simpel und elegant. Magnus lächelte in sich hinein, sah hinauf zum Mond, der im Himmel über Paris hing, und stellte sich vor, wie Axel in seiner Kutsche durch die Nacht fuhr. Dann stellte er sich vor, wie Axel noch ganz andere Dinge tat. Schnell lief er weiter. Die Vampire warteten.
Glücklicherweise begannen Vampirfeste immer erst spät in der Nacht. Kurz nach Mitternacht hielt Magnus’ Kutsche vor Saint Clouds Tür. Die Lakaien, allesamt Vampire, halfen ihm beim Aussteigen und an der Tür wurde er von Henri empfangen.
»Monsieur Bane«, sagte er mit seinem unheimlichen kleinen Lächeln. »Mein Gebieter wird höchst erfreut sein.«
»Das freut mich außerordentlich«, antwortete Magnus mit kaum verhohlenem Sarkasmus. Henris Augenbraue zuckte leicht in die Höhe. Dann drehte er sich um und streckte seinenArm nach einem Mädchen aus, das in seinem Alter zu sein schien und ihm recht ähnlich sah – blond, mit glasigem Blick, leerem Gesicht und wunderschön.
»Kennen Sie schon meine Schwester Brigitte?«
»Selbstverständlich. Wir sind uns bereits einige Male begegnet, Mademoiselle. In Ihrem … vorigen Leben.«
»Meinem vorigen Leben«, wiederholte Brigitte mit einem kurzen, klingenden Lachen. »Meinem vorigen Leben.«
Der Gedanke an ihr voriges Leben schien Brigitte noch lange zu amüsieren, denn sie kicherte und lächelte weiter vor sich hin. Henri legte seinen Arm auf nicht ganz brüderliche Weise um sie.
»Unser Gebieter hat uns in seiner Großzügigkeit gestattet, unsere Namen zu behalten«, erklärte er. »Es war mir außerdem eine große Freude, zu meinem
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