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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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Vorfall erklärte. Sah ihn, wie üblich, Untröstlichkeit heucheln. Wie er allen erzählte, sein Junge sei auf Rebhuhnjagd gegangen und sicher in einen Brunnenschacht gestürzt. Das Unheil habe es wieder einmal auf seine Familie abgesehen und Gott ihm nun auch noch sein Fleisch und Blut genommen. Der Junge wiegte den Kopf zwischen den Knien, als könnte er diese Gedanken abschütteln. Doch das Bild des Vaters, beflissen und kriecherisch, holte ihn erneut ein, in Begleitung des Polizeiwachtmeisters. Eine Erinnerung, die wie keine andere im Inneren seines Körpers für Aufruhr sorgte. Angestrengt spitzte er die Ohren, ohne die Stimme des Polizeiwachtmeisters ausmachen zu können, doch selbst ihr Fehlen bereitete ihm Panik. Er stellte sich vor, wie er bei der Olivenernte, die Zigarre im Mundwinkel, hinter dem Trupp von Erntehelfern herstapfte, der die Oliven von den Bäumen klopfte. Wie er Erdklumpen zertrat oder sich bückte, um eine Olive aufzuklauben, die vom letzten Klopfdurchgang liegengeblieben war. Die Uhrkette unter dem Jackett hervorschauend. Der braune Filzhut, die Krawatte, der einschnürende Kragen, der Schnurrbart, penibel mit Zuckerwasser hochgezwirbelt.
    Eine Männerstimme, nur wenige Meter vor seinem Loch, riss ihn aus seinen Gedanken. Es war der Lehrer. Er redete mit jemandem, der etwas weiter entfernt lief. Der Junge fühlte, wie sein Herz zu rasen begann und das aufwallende Blut heftig in seinen Adern pochte. DieSchmerzen vom stundenlangen Kauern trieben ihn nach draußen, er zog sogar in Betracht, die ganze Sache sofort aufzugeben. Immerhin hatte er nicht gemordet, niemanden bestohlen oder Gott gelästert. Er war schon drauf und dran, die Zweige, die das Loch verdeckten, beiseitezuschieben, um die Männer in seiner unmittelbaren Nähe auf sich aufmerksam zu machen. Sie würden einander auffordern, still zu sein, den Kopf umwenden und in die Richtung lauschen, aus der das Geräusch gekommen war. Sie würden Blicke austauschen und sich lautlos an den Haufen von Geäst heranschleichen, gespannt, ob sie dort ein Kaninchen entdeckten oder den verlorenen Jungen. Dann würden sie die Äste entfernen und ihn gekrümmt am Boden hocken sehen. Er würde eine Ohnmacht vortäuschen, was mit den Lehmresten, der feuchten Kleidung und dem verdreckten Haar das Bild seines kurzen Triumphs perfekt machen würde. So wäre ihm wenigstens ein Moment der Genugtuung vergönnt. Auf die Rufe der Männer würden die anderen herbeieilen. Unter ihnen, keuchend, der Vater, zunächst freudestrahlend und frohgemut. Sie würden sich aufgeregt um das Loch drängen, bis ihm kaum noch Luft zum Atmen bliebe. Ein Streichholz im Augenblick des Zündens, mächtig auflodernd, aber ohne jede Spur der honigsämigen Flamme, die das Holz schließlich verzehrt. Unter Freudengeheul würden sie ihn ausgraben, und die rüden männlichen Umarmungen würden kleine Staubwolken von seinen Schultern aufwirbeln. Schließlich Heimkehr ins Dorf auf einer Tragbahre, begleitet von Ernteliedern und lauwarmem Wein aus Lederflaschen, die rauhe Hand des Vaters auf seinerschmächtigen olivbraunen Brust. Vergnüglicher Auftakt eines Dramas, in dem zunächst alle in der Schenke landeten, bevor jeder zu sich heimkehrte. Am Ende die dicken steinernen Hauswände, die das Dach stützten und die Zimmer kühl hielten, als einzige Zeugen. Vorspiel für den abgewetzten Gürtel des Vaters. Die Kupferschnalle, die die ranzige Küchenluft zerschlitzt, blitzschnell und doch nicht imstande, je wieder Glanz zu erzeugen. Die Szene seiner geheuchelten Erschöpfung am Boden des Schachts würde sich am Ende gegen ihn kehren.
    Er erkannte den Lehrer, als dieser sich schon fast über ihm die Nase schneuzte. Ein schleimhäutiges Getöse, das das trockene Taschentuch erzittern ließ, bei dem die Kinder in der Schule jedes Mal Blut und Wasser schwitzten, um nicht loslachen zu müssen. Der Schatten des hageren Körpers huschte über sein Blätterdach. Er schloss die Augen und presste die Lippen zusammen, während der Mann auf den Haufen aufgeschichteter Zweige pinkelte.
    Der Junge ließ noch viel Zeit verstreichen, nachdem er die letzte Stimme fern von seinem Fleckchen Erde hatte verklingen hören. Er wollte sichergehen, dass er niemanden mehr antreffen würde, wenn er die Äste entfernte. Er war bereit, so lange auszuharren wie nötig. Weder die Stunden unter der Erde noch der Urin seines Lehrers, der ihm das Haar verklebte, oder der Hunger, der ihn hinaustrieb, waren ihm Grund genug,

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