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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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Gier dann doch so heftig daran zerrte, dass die straffe Rückseite der Tasche auf den Steinchen vibrierte wie die Haut einer Trommel.
    »Wohin willst du damit?«
    Wie gelähmt vernahm er die heisere Stimme auf der anderen Seite der Feuerstelle, die sein zur Fratze erstarrtes Gesicht beleuchtete.
    »Ich habe Hunger, Señor.«
    »Hast du nicht gelernt, bitte zu sagen?«
    In dem Moment hätte er am liebsten mitsamt der Provianttasche die Flucht ergriffen und den Mann, der unter seiner Decke lag und mit ihm sprach, einfach zurückgelassen. Er fragte sich, ob sich der Hund in diesem Fall noch als zutraulich erweisen würde. Noch verstand er nichts von Anstand und Rücksichtnahme oder von der Wirkung der Zeit auf zwei Menschen, die sie nach und nach wie eine Steppnaht zusammenheftet.
    »Hilf mir auf, mein Junge.«
    Er ließ den Lederriemen fallen und machte ein paar winzige Schritte auf den Mann zu. Wenige Meter von ihm entfernt blieb er stehen und musterte den halb verhüllten Körper. Der Mann hatte die Decke über das Gesichtgezogen, nur von den Knien abwärts schauten die Beine hervor. Unter der Decke geriet er kaum merklich in Bewegung, vielleicht, um sich die Hose zuzubinden oder auf der Suche nach seinem Feuerzeug. Als der Hirte schließlich den Kopf hervorstreckte, war der Junge längst wieder hinter der Kakteenwand verschwunden.
    Während der Junge in seinem Versteck ausharrte, zeichneten sich nach und nach im schwachen Lichtschimmer einzelne Bereiche des Lagerplatzes ab. Bei den Bäumen handelte es sich wie vermutet um Pappeln, deren Kronen nun die Spuren der Dürre erkennen ließen. Neun Ziegen zählte er und einen Bock. Dann bemerkte er einen Verschlag, der ihm vorher nicht aufgefallen war, eine pyramidenförmige Hütte aus Ästen, wohl von den Bäumen weiter hinten abgesägt. Daran hingen Gurte, Seile, Ketten, eine blecherne Milchkanne sowie eine schwarz verrußte Pfanne. Eine Hütte, die eher an ein Tabernakel erinnerte. Zwischen dem Bretterverschlag und dem Pappelhain ein Gehege, umzäunt von vier in den Boden gerammten Pflöcken, die mit Seilen aus geflochtenem Pfriemgras verbunden waren.
    Während er sich umschaute, brauchte der Hirte einige Zeit, um sich aufzusetzen und eine Zigarette zu drehen. Es verstrichen mehrere Minuten, bis er sich aufgerappelt hatte, um sich aus der Decke, in der er sich verfangen hatte, auszuwickeln. Der Junge konnte das Gesicht des Mannes schlecht erkennen, schloss jedoch aus der Schwerfälligkeit seiner Bewegungen, dass er bereits älter sein müsse. Ein ausgemergelter alter Mann, der in seiner Kleidung schlief. Ein dunkles Jackett mit breitem Revers,verfilztes weißes Haar und ein Bart wie eine weiße Bürste, der unterhalb der Nase sein Gesicht bedeckte.
    Der Ziegenhirt sah den Jungen hinter den Feigenkakteen hervorkommen, schenkte ihm aber, da er zu sehr damit beschäftigt war, sein Feuerzeug zu entzünden, keinerlei Beachtung. Zwei Meter vor dem Mann hielt der Junge inne. Aus der Entfernung nahm er die Strohreste im Haar des Alten wahr und die durchgewetzten Ellenbogen seines Jacketts. Er wunderte sich, dass der Hirte es so lange mit gekrümmtem Rücken am Boden sitzend aushielt. Der Hirte blickte auf und musterte den Jungen. Die Zigarette hinters Ohr geklemmt, hielt er die gestreckte Hand schützend über den orangefarbenen Docht des Feuerzeugs. Dann machte er eine Geste, die der Junge noch unzählige Male bei ihm sehen sollte. Daumen und Zeigefinger zum V geformt, säuberte er sich mit den Fingerkuppen die Mundwinkel. Anschließend fuhr er sich noch einmal mit dem Zeigefinger darüber, als wollte er die losen Haare eines Schnauzbarts wegstreichen.
    »Setz dich. Du wirst etwas essen!«
    Der Mann zeigte auf eine Stelle vor seinen Füßen, wo der Junge sich folgsam niederließ. Noch eine ganze Weile mühte der Hirte sich erfolglos mit dem Rädchen des Feuerzeugs ab und blies auf den Docht. Schweigend beobachtete ihn der Junge, erstaunt über das mangelnde Geschick des Alten, das Rad an der richtigen Stelle und mit ausreichendem Druck zu betätigen. Es juckte ihn in den Fingern, hatte er ein solches Gerät doch schon unzählige Male bedient.
    Als der Alte seine Zigarette endlich angezündet unddie ersten Züge getan hatte, stützte er sich mit der freien Hand am Boden ab und entspannte den Rücken, als hätte er sich einer lästigen Pflicht entledigt. Dann pfiff er mit gestrafften Lippen, der Hund sprang auf und trabte in Richtung Herde los, die sich allmählich zu regen

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