Die Flucht: Roman (German Edition)
würde.
Eine ganze Weile wischte er sich mit der Zunge über das Zahnfleisch, um den beißenden Nachgeschmack des Käses loszuwerden. Dann nagte er ein wenig am Brot, trank einen Schluck Wasser aus dem Lederschlauch und legte sich am Boden hin, den Kopf auf eine überstehende Wurzel des Olivenbaums gebettet. Der Himmel war in Schwarzblau getaucht. Die Sterne hoch oben wie Intarsien einer Glaskugel. Die Ebene vor ihm schüttelte gerade das Leid ab, das die Sonne ihr während des Tages zugefügt hatte, und verströmte den Geruch nach verbrannter Erde und verdorrter Wiese. Ein weißer Steinkauz huschte über seinen Kopf hinweg und verlor sich zwischen den Wipfeln der Bäume. Er dachte, es gebe keinen Ort, der dem Dorf, in dem er sein ganzes Leben zugebracht hatte, fremder sei.
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M itten in der Nacht befand er sich auf dem Weg gen Norden, stets darauf bedacht, die ausgetretenen Pfade zu meiden. Seine Hose war noch klamm, doch inzwischen hatte er andere Sorgen. Er watete durch Stoppelfelder, immer auf der Suche nach Strohresten vom letzten Schnitt, um notfalls in Deckung zu gehen. Ab und an scheuchte er ein Rebhuhn auf oder vernahm das Trippeln der Feldhasen, die vor seinen knirschenden Stiefeln Reißaus nahmen. Als der Olivenhain hinter ihm lag, hatte er keinen weiteren Plan, als den Kurs zu halten. Er wusste, wie man die Milchstraße erkannte, das w-förmige Sternbild der Kassiopeia und den Großen Bären. Ihre Position half ihm, den Polarstern zu orten, und in diese Richtung lenkte er seine Schritte.
Obwohl er noch keine vierundzwanzig Stunden auf der Flucht war, wusste er, dass es ausreichte, um im Dorf bereits eine Flut der Angst durch die Gassen zu spülen, auf das Haus seiner Eltern zu. Ein unsichtbarer Strom, der die Frauen des Dorfes mitriss und sie erst wieder beruhigen würde, wenn sie um die Mutter herumstanden,die schlaff und runzlig wie eine alte Kartoffel auf dem Bett lag. Er stellte sich vor, welch ein Aufruhr daheim und im gesamten Dorf herrschte. Menschen, die in Scharen die steinerne Brüstung seines Elternhauses erklommen, in der Hoffnung, durch den Türspalt einen Blick auf das Treiben drinnen zu erhaschen. Ihm stand das Motorrad des Polizeiwachtmeisters vor Augen, das vor dem Eingang parkte: eine robuste Maschine mit Beiwagen, auf der er kreuz und quer durchs Dorf und über die Felder brauste, dicke Staubwolken aufwirbelnd. Den Beiwagen kannte er nur zu gut. Wie oft war er schon mitgefahren, unter einer speckigen Decke verborgen. Er dachte an den schmierigen Geruch unter der Wolldecke, an die Borte aus brüchigem Wachstuch. Das Motorengeräusch bedeutete für ihn die Posaune des ersten Engels. Der, der Feuer mit Blut gemengt über der Erde ausschüttete und alles grüne Gras verbrannte.
Der Polizeiwachtmeister war der Einzige im Dorf, der ein motorisiertes Fahrzeug besaß. Seines Wissens fuhr in der Gegend nur noch der Gouverneur einen Wagen mit vier Rädern. Gesehen hatte er ihn nie, aber Hunderte von Malen die Geschichte von seinem Besuch im Dorf zur Einweihungsfeier des Getreidesilos zu hören bekommen. Die Kinder hatten zu seiner Begrüßung Papierfähnchen geschwenkt, und zur Feier des Tages waren mehrere Hammel geschlachtet worden. Wer das miterlebt hatte, beschrieb den Wagen als eine Art Wunderwerk.
Während er als winzige, dunkle Gestalt durch die urgewaltige Schwärze stapfte, fragte er sich, ob es aufder Linie zwischen seiner Position und dem Polarstern im Norden etwas geben mochte, was ihm nützlich sein könnte. Obstbäume am Wegesrand etwa, saubere Wasserquellen, anhaltende Frühlingszeiten. Es war ihm unmöglich, sich eine konkrete Vorstellung von dem zu machen, was ihn erwartete, aber das kümmerte ihn nicht. Wenn er immer nur in Richtung Norden marschierte, entfernte er sich vom Polizeiwachtmeister und von seinem Vater. Es reichte ihm, dass er fortkam. Das Schlimmste, was ihm passieren könnte, dachte er, wäre, wenn er seine letzten Kräfte damit vergeuden würde, im Kreis zu laufen oder wieder in Richtung Heimat. Er wusste, dass er früher oder später jemandem oder etwas begegnen würde. Es war nur eine Frage der Zeit. Spätestens, wenn er einmal die Welt umrundet hätte, würde er wieder auf sein Dorf stoßen. Aber wenigstens würde er bis dahin Fäuste haben, hart wie Felsklötze. Selbst wenn er keinem Menschen begegnen würde, hätte er auf seiner langen Wanderschaft genug gelernt, um dem Polizeiwachtmeister nicht mehr wehrlos ausgeliefert zu sein.
Er fragte sich, ob es
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