Die Flucht: Roman (German Edition)
Schatten. Warum hatte er ihm nicht gleich Wasser gegeben? Strotzte die Region etwa so vor Wasserstellen, dass er annahm, selbst ein Kind wie er würde sie finden? War es eine Einladung, sich wiederzusehen? Sollte er beim nächsten Treffen Milch daraus trinken?
Durst.
Als die Sonne am höchsten stand, verstaute er alles wieder in seinem Sack, zog das Hemd über und machte sich auf den Weg. Er marschierte bis zur nächsten Kehre, scherte dann aus und stieg den Hang hinauf, bis er eine Palme erreichte. Der Stamm war löcherig, und an seiner Krone baumelte ein Büschel toter Zweige. Exakt in der Mitte des Schattenflecks, den die Krone warf, ragte der Stamm empor. Er streifte den Proviantsack ab und reinigte ein Fleckchen am Boden von Blättern und Steinen. Wie schon zuvor schlüpfte er aus dem Hemd und breitetees wie ein Tischtuch auf dem gesäuberten Terrain aus. Dann kramte er die Lebensmittel aus seinem Proviantsack hervor, verteilte sie auf dem Stoff und setzte sich, um zu essen. Beim Abnagen der Schwarte bemühte er sich, nicht daran zu denken, dass er kein Wasser hatte. Doch der ranzige, schwitzende Käse überzog seinen Gaumen mit einem Film, der ihm keine Ruhe ließ, ein säuerlicher Belag, den man nur mit Wasser loswurde. Er leckte sich den Gaumen mit der Zungenspitze und stand auf. In der Nähe des Baumes stieß er auf die Reste eines verfallenen Backsteingebäudes. Erosion, Sonne und Wind hatten seine Mauern in einen Haufen Ziegelschutt verwandelt, der sich über den Boden ergoss. Er erkannte die rechteckigen Grundrisse einer Wohnfläche mit einem einzigen Aufenthaltsraum, so wie es in der Provinz üblich war, und musste an sein Elternhaus am Rande des Heimatdorfes denken.
Allein unter der Sonne musterte er nun diesen um zwei Handbreit erhöhten Bezirk. Mit seinen stumpfen Rändern, wie ein Krater mit vier Ecken. Eine erklomm er und erforschte die Gegend nach Hinweisen, die auf die Nähe seiner Häscher oder einer anderen Person schließen ließen. In sanften Hügeln dehnte sich die Landschaft in alle Richtungen aus, und wohin er blickte, wurde die Sicht vom Flimmern über dem aufgeheizten Boden verzerrt.
Er durchsuchte die unmittelbare Umgebung der Ruine nach Resten eines alten Brunnens. Wer immer das Haus erbaut haben mochte, hatte dies vermutlich auf einer unterirdischen Quelle oder Wasserader getan. Unwillkürlicherweiterte er den Radius seiner Erkundungen, den Blick fest auf den Boden geheftet, bis er bei dem Feigenbaum landete, den er schon beim Rasten unter dem Mandelbaum erspäht hatte. Es wunderte ihn, dass er zu dieser Jahreszeit noch immer grüne Blätter trug und nicht nach versengtem Gras roch. Der Gedanke an den süßen Duft von Feigen betörte ihn, und unbewusst versank er in wohligen Erinnerungen an einen Sommerabend, als er unter dem Feigenbaum vor dem Bahnhof gespielt hatte, zwischen zarten Zweigen verborgen, die vor prallen Feigenfrüchten strotzten. Er hatte sich berauscht am warmen Fruchtfleisch, üppig und butterweich. An den reifen Farben, der hauchdünnen Schale, die in der sommerlichen Glut kaum bis zur ersten zarten Berührung unversehrt blieb.
Er gönnte sich eine kurze Pause im duftenden Schatten und setzte dann seine Suche fort. Hinter dem Feigenbaum stieß er auf ein am Boden liegendes Stahlgerüst. Verrostete, mit Nieten verbundene Winkeleisen, an deren Ende sich Bügel befanden, die einst wohl hölzerne Drehflügel gehalten hatten. Das Ganze sah aus wie eine Schöpfmühle. Als er mit der Fußspitze die Konsistenz seines Fundes überprüfen wollte, fiel die Konstruktion auseinander. Zunächst wunderte es ihn, dass er diese Überreste nicht schon von dem Mandelbaum aus entdeckt hatte, doch was ihn bei näherer Betrachtung des zerfallenen Haufens von Zunder und Eisenschlacke noch mehr erstaunte, war, dass jemand eine so niedrige Mühle errichtet hatte. Er dachte, wenn sie nur wenige Meter länger gewesen wäre, hätte sie vielleicht höhere Luftschichten erreichtund folglich eine ganz andere Drehgeschwindigkeit, um effizienter für den Bauern und seine Familie zu arbeiten. Womöglich hätte dieser dann gar nicht fortgehen müssen und das, was jetzt nur noch ein verschwindend kleiner Haufen zerfallener Ziegelsteine war, hätte noch sein Zuhause sein können. Er fragte sich, wie der Bewohner etwas so Selbstverständliches nicht bedacht haben konnte, und seine erste Vermutung war, dass er nicht mehr Eisenmaterial zur Verfügung gehabt hatte. Aber warum war er dann nicht auf Holz
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