Die Fluchweberin
mein Tablett fort und verließ den Speisesaal. Meine Absätze klapperten über den Steinboden, als ich den langen, düsteren Gängen mit ihren Säulen und Spitzbögen in den Verwaltungstrakt folgte. Holbrook Hill bestand aus mehren Gebäuden, wobei das Haupthaus, in dem die Verwaltung, die Bibliothek, der Speisesaal und die Klassenräume untergebracht waren, das älteste war. Ein hufeisenförmiger Bau aus graubraunem Kalkstein im gotischen Stil, mit unzähligen spitzen Dächern und Giebeln, hohen Buntglasfenstern und einer kunstvollen Rosette über dem gewaltigen Eingangsportal. An den Ecken saßen Wasserspeier wie stumme Wächter auf den Dachkanten und spuckten Regenwasser, von dem es hier eine Menge gab, in den Hof. In den beiden neueren Gebäuden, wobei neuer in diesem Fall bedeutete, dass sie mittlerweile an die hundert Jahre auf dem Buckel hatten, befanden sich der Wohntrakt der Mädchen und der Jungen. Die weiteren Anbauten beherbergten die Sporthallen, diverse Lagerräume, ein Schwimmbad und natürlich die Unterkünfte der Lehrer. Das ganze Gelände war von einer großen Parkanlage umgeben, die um diese Jahreszeit weit weniger gepflegt war als während der Sommermonate, und schließlich von einer Außenmauer vom Rest der Welt abgeschirmt. Dahinter erstreckten sich Wälder und die ersten Ausläufer des Moors.
Alles in allem erinnerte Holbrook Hill mich oft mehr an ein Spukschloss als an ein Eliteinternat. Besonders im Herbst, wenn die Blätter fielen, die Tage kürzer und die Schatten länger wurden, schienen die Geister aus ihren Löchern zu kriechen. Wobei die Geister in meinem Fall wohl eher unangenehme Erinnerungen waren.
Ich wusste nicht, warum sie mich ausgerufen hatten, war mir aber ziemlich sicher, dass es nichts mit Magie zu tun hatte. Andernfalls wäre längst ein Einsatzkommando der Magiepolizei über mich hergefallen und hätte mich fortgeschleift.
Trotzdem kostete es mich einiges an Überwindung, die massive Holztür aufzudrücken, die ins Vorzimmer zum Büro des Schulleiters führte. Mrs Finch, Direktor Jenkins’ Sekretärin, saß hinter dem Empfangstresen an ihrem Schreibtisch. Ich hatte damit gerechnet, dass sie aufspringen und mich sofort zum Direktor schleifen würde. Stattdessennickte sie mir lediglich kurz zu und richtete ihre Aufmerksamkeit sofort wieder auf die Unterlagen, die vor ihr auf dem Tisch lagen.
»Ah, Raine, da bist du ja.«
Überrascht blickte ich in das Gesicht von Mr Cranston, unserem Vertrauens- und Mathematiklehrer. Wie gewöhnlich trug er ein zerknittertes, hellbraunes Cordsakko mit dunklen Lederflicken an den Ellbogen. Trotz der runden Brille und der abgegriffenen Aktenmappe, die er ständig mit sich herumschleppte, schaffte er es, nicht wie ein Lehrer, sondern wie ein alter englischer Gutsbesitzer auszusehen. »Wir haben schon auf dich gewartet. Ich habe hier einen neuen Mitschüler für deine Jahrgangsstufe.«
Erst jetzt bemerkte ich den Jungen, der neben ihm stand. Wobei Junge wohl nicht mehr ganz treffend war. Ich schätzte, dass er etwa zwei Jahre älter war, was wohl bedeutete, dass er mindestens eine Klasse wiederholt hatte. Er war groß und athletisch und seine Haltung strotzte nur so vor Selbstbewusstsein. Vermutlich war er eine dieser Sportskanonen, die sich wie Könige vorkamen und sich auch dementsprechend benahmen. Seine dunklen Augen wurden durch die gebräunte Haut noch zusätzlich betont, und mit den weichen Gesichtszügen hätte er, trotz einer etwas zu langen Nase, perfekt ausgesehen – wäre da nicht die Narbe gewesen, die sich wie ein feiner Strich quer über seine linke Wange zog.
»Raine, das ist Skyler Matthews, ein neuer Schüler«, stellte Mr Cranston den Jungen vor. »Skyler, das ist Raine MacDaniels. Betrachte sie als eine Art Patin, die dafür sorgen wird, dass du dich hier schnell eingewöhnst und Kontakte knüpfst.«
Ausgerechnet ich sollte dem Neuen dabei helfen, Anschluss zu finden? Das war der Witz des Jahrhunderts! Allerdings wurde mir schnell klar, dass Mr Cranston damitzwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollte. Obwohl ich mich oft in der Gesellschaft von Mercy und den anderen herumtrieb, schien er der Meinung zu sein, dass ich mich zu sehr abkapselte. Als könne er in mein Innerstes blicken und erkennen, dass die drei nur Tarnung waren. Am Ende des letzten Schuljahres hatte er mich sogar einmal zu einem Gespräch gebeten und mir nahegelegt, mich mehr zu engagieren und vor allem ein wenig geselliger zu werden. Da ich nicht
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