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Die Flüchtende

Die Flüchtende

Titel: Die Flüchtende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
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rüber zum Kungsträdgärden drängten sich die Leute, die sie singen hören wollten.»
    Sibylla starrte ihn an. Der Polizist blickte neugierig drein.
    «Wer hat auf dem Balkon gesungen?»
    Heino seufzte und reckte seine schwarzen Handflächen vor.
    «Christina Nilsson natürlich. Die smäländische Nachtigall.»
    Heino legte eine Kunstpause ein. Die Frau im Auto wurde allmählich ungeduldig, lehnte sich über den Fahrersitz und kurbelte die Scheibe herunter.
    «Janne!»
    «Warte mal eben!»
    Heino nickte. Er war jetzt in seinem Element.
    «Mehr als vierzigtausend Kerle und Weiber hatten sich hier versammelt, um sie singen zu hören. Es war total schwarz vor Leuten. Sie waren auf Masten und Wagen geklettert, aber trotzdem war es absolut mucksmäuschenstill. Wisst ihr, dass man sie bis zur Skeppsbron hat singen hören? Ehrlich. Die Leute damals wussten, wie man die Klappe hält.»
    «Janne! Komm jetzt.»
    Heino genoss jetzt seine ganze Aufmerksamkeit. Das Beste, was Sibylla tun konnte, war, still zu sitzen und alles laufen zu lassen. Sie schielte zum Nationalmuseum hinüber und sah, dass die Tussis wieder verschwunden waren. Heino reckte einen Finger in die Luft. Durch diese Bewegung entwich seinem zerschlissenen
    Überzieher eine neue Welle Mief. Sibylla versuchte den Atem anzuhalten.
    «Aber sie hatte kaum fertig gesungen, da klatschten alle wie besessen in die Hände und jemand schrie, dass das Gerüst am Palmgren'schen Haus zusammenbrechen würde. Ja, das wurde damals gerade gebaut. Da kam Schwung in den Pöbel! Sechzehn Weiber und zwei Kinder sind dabei niedergetrampelt worden und gestorben. Und an die hundert haben sie ins Krankenhaus bringen müssen.»
    Heino nickte.
    «Da hättet ihr mal hier sein sollen. Dann wären sie jetzt vielleicht noch am Leben. Anstatt mich anzumachen, wo ich nur ein Brötchen esse.»
    Der Polizist mit Namen Janne nickte und lächelte.
    «Ja freilich, Heino. Da hast du Recht. Pass auf dich auf!»
    Diesmal gelang es ihm, ins Auto einzusteigen und loszufahren, bevor Heino noch mehr einfiel.
    Sibylla starrte ihn an und schüttelte den Kopf.
    «Woher weißt du das alles?»
    Heino schnaubte.
    «Man ist schließlich gebildet. Ein bisschen dreckig vielleicht, aber gebildet.»
    Er hatte sich erhoben und wendete sein großes Gefährt, um zum Kungsträdgärden zurückzugehen und seine Jagd nach Pfanddosen fortzusetzen.
    «Danke für das Brötchen.»
    Sibylla lächelte ein wenig und nickte. Heino ging. Sie sah zu dem Balkon hinauf, auf dem Christina Nilsson vor hundert- funfzehn Jahren gestanden hatte. In dem Lärm, der heutzutage den städtischen Raum beherrschte, hätte sie keine Chance gehabt.
    Sibylla wandte den Kopf und sah Heino über die Kungsträd- gärdsgatan verschwinden. Einen Moment lang überkam sie die
    Lust aufzustehen und ihm nachzurennen. Um für ein Weilchen nicht allein sein zu müssen. Aber das ging nicht. Sie blieb sitzen.
    Bis sich die größte Aufregung gelegt hatte, war es am besten, wenn sie für sich blieb. Wie üblich.
    Nach jener ersten Spritztour verbrachte sie fast jeden Nachmittag ein Weilchen bei Micke auf dem Hof des VMIJ. Diese Weilchen wurden länger und länger, und schließlich pfiff sie ganz auf den Spaziergang und ging direkt dorthin. Sie traf auch die anderen Mitglieder des Vereins, alles Jungs in Mickes Alter, und zum ersten Mal fühlte sie sich von einer Gruppe akzeptiert. Micke hatte sie mitgebracht und deshalb wurde sie ohne weitere Überprüfungen zugelassen. Sie schienen sich nicht einmal darum zu scheren, dass sie Forsenströms Tochter war.
    Am allerbesten aber war es, wenn sie allein in der Werkstatt waren. Dann war Micke anders und brachte ihr alles bei, was er über Motoren und Autos wusste. Manchmal nahm er sie auf eine Spritztour mit, und wenn er richtig guter Laune war, ließ er sie ein Stück einen Waldweg entlangfahren. Das erste Mal hatte sie dabei auf seinem Schoß gesessen. Sie hatte seine Schenkel unter den ihren und seinen Bauch an ihrem Po gespürt. Ein ganz komisches Gefühl im Körper war das gewesen. Warm und kribbelig zugleich. Seine Hände am Lenkrad auf den ihren.
    Danach hatte sie seinen Namen unter ihren Schreibtischstuhl in ihrem Zimmer geschrieben. Ihr Geheimnis. Ein Geheimnis, das ihr eine so wunderbare Kraft verlieh. Womöglich merkte man ihr das an, oder aber es war sie, die nichts mehr hörte, denn in der Schule wurde ihr weniger hinterhergerufen, und das Dasein wurde leichter.
    Der ganze Tag war ein einziges langes Warten

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