Die Flüchtende
war mit vier Kreuzschlitzschrauben an der Wand befestigt, und Sibylla bückte sich, um in ihrem Rucksack nach einem passenden Instrument zu suchen. Eine Nagelfeile müsste dazu taugen und so war es auch. Kaum hatte sie ein wenig an der oberen Schraube herumgesto-chert, fiel diese auch schon aus der Wand. Sie prüfte die anderen Schrauben. Die saßen ebenfalls locker. Das versetzte ihr einen winzigen Stich Misstrauen. Gab es außer ihr noch jemanden, der die schützende Abgeschiedenheit dieses Dachbodens kannte? Aber jetzt blieb keine Zeit zum Nachdenken. Das Stimmengemurmel in den Fluren unter ihr schwoll an. Sie steckte die Nagelfeile in die Tasche und öffnete die Tür. Drinnen führten ein paar Treppenstufen mit einem kleinen Geländer an der Seite nach oben. Sie trat ein und machte die Tür hinter sich zu.
Es sah nicht mehr so aus wie beim letzten Mal, als sie hier war. Das musste jetzt sechs, sieben Jahre her sein, und die Schule war seitdem renoviert worden. Im Treppenhaus war ihr das schon aufgefallen. Früher war der Dachboden voller Abfall und altem Gerümpel gewesen, aber offensichtlich hatte der mürbe Fußboden einer Reinigung bedurft. Nun lagen nur noch einzelne vergessene Schulbücher herum. Jetzt erinnerte sie sich auch, dass es damals Sommer und in dem schlecht isolierten Raum erstickend heiß gewesen war. War dieser Ort vielleicht deshalb in Vergessenheit geraten?
Jetzt würde die Wärme nicht zum Problem werden. Eher das Gegenteil.
Aber die Uhr war noch an ihrem alten Platz.
Die Uhr der Sofienschule war riesig, wenn man sie von hinten sah. Zwei Lampen, die man ebenfalls erst nach ihrem letzten Aufenthalt hier angebracht hatte, beleuchteten das Zifferblatt von innen. Damals war die Uhr kaputt gewesen, aber sie konnte schon jetzt sehen, dass sich der Minutenzeiger weiterbewegt hatte, seitdem sie hier war. Für einen kurzen Moment wurde sie wieder unruhig. Wie oft musste man solch eine Riesenuhr stellen?
Energisch drängte sie ihre Unruhe beiseite. Wenn sie ihre Sachen an der gegenüberliegenden Wand auspackte, hätte sie durchaus Zeit, sich zu verstecken, falls wider Erwarten ein Uhrensteller kommen und sie überraschen sollte.
Kurze Zeit später hatte sie ihre Isomatte und ihren Schlafsack ausgerollt. Die Unterhosen und das Handtuch, die noch immer feucht waren, hängte sie an einem Kabel auf. In der Nacht, wenn das Haus leer wäre, würde sie den Personalraum auskundschaften und die Dusche benutzen. Dann könnte sie die Sachen noch einmal waschen, denn wenn die erst einmal stockig würden, wären sie nie mehr sauber zu kriegen.
Sie fühlte sich immer noch schmutzig. Thomas' Hände hafteten ihr wie ein Schmierfilm an, obwohl sie außer Reichweite waren. Ob er schon aufgewacht war und ihr Verschwinden bemerkt hatte? Und was er wohl machte, wenn er es entdeckte?
Jetzt saß sie also hier.
Auf einem Dachboden versteckt.
Gekränkt, verleumdet und vernichtet.
Sie hätte im Lauf der Jahre viele Gründe dafür gehabt aufzugeben, aber irgendetwas hatte sie immer weiterkämpfen lassen.
Nun hatte sie am Ende vielleicht doch einen hinlänglich triftigen Grund erhalten nachzugeben? Vielleicht wäre das sogar ganz angenehm? Ein letzter und endgültiger Beweis dafür, dass sie tatsächlich ein Irrtum war?
Sie hörte das Gemurmel der Schülerinnen und Schüler, die sich im Haus unter ihr versammelten.
Sibylla, Sibylla, Gesicht wie ein Gorilla. Verjubelt Omas Villa. Wir schmeißen sie auf den Müll da.
Vielleicht hatten sie Recht gehabt? Vielleicht war es so?
Vielleicht hatte man ihre Minderwertigkeit in ihrer Kindheit schon von weitem riechen können und dann waren die Leute nur ihrem Instinkt gefolgt. Dass sie irgendwo dazugehören sollte, war gar nie vorgesehen gewesen. Das war allen von Anfang an klar gewesen. Allen außer ihr selbst, der man es erst hatte beibringen müssen. Ihr beharrlicher Kampf für etwas Besseres war vielleicht nur eine gestohlene und eigentlich nicht für sie gedachte Extrazeit. Sie und Heino und die anderen waren vielleicht nur dafür geschaffen, das Unterholz der Gesellschaft zu bilden. Damit der Normalbürger im Vergleich zu ihnen ein wenig Zufriedenheit mit seiner Lebenssituation empfand. Seinen Erfolg an ihrem Versagen maß.
Es konnte immer noch schlimmer kommen!
Ihre Aufgabe war es vielleicht, im Organismus der Gesellschaft das Gleichgewicht herzustellen. Die Spreu wurde bereits von Anfang an vom Weizen getrennt. Sodass sie sich daran gewöhnen konnten, gar nicht
Weitere Kostenlose Bücher