Die Flüchtende
räusperte sich.
«... für das Kind.»
Aha. Für das Kind. Das Wort war ihr nur schwer über die Lippen gekommen. Das sah man sogar ihrem Rücken an.
Sibylla wurde plötzlich böse.
«Und warum ist es so wichtig, dass es ihm gut geht?»
Ihre Mutter drehte sich langsam um.
«Ich war es nicht, die sich ein Kind hat machen lassen. Und nun übernimmst du auch die Verantwortung für deine Taten!»
Sibylla schwieg. Es war zu viel, was sie hätte sagen können.
Ihre Mutter versuchte sich wieder zu sammeln. Es war sichtlich nicht das Gemüse, worüber sie hatte sprechen wollen, sie war damit nur auf ein unglückliches Nebengleis geraten. Sibylla sah, wie sie Anlauf nahm, um auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen zu kommen.
«Ich will, dass du mir sagst, wer der Vater des Kindes ist.»
Sibylla antwortete nicht.
«Ist es der mit dem Auto? Dieser Mikael Persson? Ist er es?»
«Er kann es gewesen sein. Wieso? Spielt das eine Rolle?»
Sie konnte es nicht lassen. Ihre Mutter tat alles, um ihren Zorn unter Kontrolle zu halten, doch Sibylla dachte nicht daran, ihr zu helfen. Nicht mehr.
«Ich will dir nur sagen, dass er nicht mehr in Hultaryd ist. Das Vereinslokal gehörte deinem Vater und er hat beschlossen, das Haus abreißen zu lassen. Dieser Mikael ist von hier weggezogen.»
Sibylla konnte nicht umhin zu lächeln. Nicht weil VMIJ abgerissen werden sollte, sondern weil sie sich zum ersten Mal den Gedanken zu Ende zu denken traute, dass ihre Mutter nicht alle Tassen im Schrank hatte: Sie glaubte wirklich, sie sei allmächtig!
«Ich wollte dir das nur sagen.»
Jetzt hatte sie offensichtlich zu Ende gesprochen und wollte das Zimmer verlassen. Auf halbem Weg fragte ihre Tochter:
«Warum hast du dir ein Kind angeschafft?»
Beatrice Forsenströms linker Fuß blieb am Teppich kleben. Sie drehte sich um. Plötzlich entdeckte Sibylla in den Augen ihrer Mutter etwas Neues. Etwas, was sie noch nie gesehen hatte. Was vorher nie da gewesen war.
Sie hatte Angst vor ihr.
Vor ihrer eigenen Tochter.
«War es, weil Großmutter meinte, ihr solltet ein Kind haben?»
Ihre Mutter blieb stumm.
«Freust du dich, dass du Mutter bist? Dass du eine Tochter hast?»
Sie sahen sich an. Sibylla spürte, wie sich das Kind in ihrem Bauch bewegte.
«Was sagt Großmutter dazu, dass ich geisteskrank bin? Oder hast du gar nichts davon erzählt?»
Plötzlich begann die Unterlippe ihrer Mutter zu beben.
«Warum tust du mir das an?»
Sibylla schnaubte.
«Warum ICH dir das antue? Verdammt nochmal, du spinnst doch!»
Der Fluch schien Beatrice Forsenström wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
«Solche Wörter benutzen wir in diesem Hause nicht.»
«Nein. Du vielleicht nicht. Aber ICH schon . VERDAMMT, VERDAMMT, VERDAMMT.»
Ihre Mutter ging rückwärts zur Tür. Jetzt würde sie hinunterlaufen und im Krankenhaus anrufen: Sie habe eine Verrückte im Haus.
«Lauf nur und ruf an. Dann wirst du mich vielleicht ein für alle Mal los.»
Sie hatte jetzt die Tür aufbekommen.
«Derweil esse ich mein Gemüse auf, denn wir wollen ja nicht, dass es dem Kind schlecht ergeht.»
Beatrice warf ihr einen letzten entsetzten Blick zu und verschwand außer Sichtweite. Als Sibylla sie die Treppe hinunterfliehen hörte, stürzte sie ihr in den oberen Flur nach. Sie sah ihre Mutter durch die Diele in Richtung Direktor Forsenströms Büro verschwinden.
« Du hast vergessen, meine Frage zu beantworten!», rief sie ihr nach.
Sie bekam keine Antwort.
Sibylla kehrte in ihr Zimmer und zu dem Tablett mit dem Essen zurück. Gekochte Karotten und Erbsen. Sie ergriff den Teller mit beiden Händen und schmiss ihn in den Papierkorb. Daraufhin holte sie eine Tasche hervor und begann zu packen.
Sie wachte davon auf, dass er die Tür öffnete. Noch ehe sie sich vom Fleck rühren konnte, war er die paar Treppenstufen hochgestiegen und stand ein paar Sekunden lang still, bevor er weiterging.
Er hatte sie nicht entdeckt. Sie lag mucksmäuschenstill und beobachtete ihn. Blond, schmächtig und mit Stahlbrille. Er stieg auf das kleine Podest vor der Uhr und legte das Gesicht ans Zifferblatt. Die Arme streckte er seitlich aus, sodass er im Gegenlicht aussah wie eine Jesusgestalt mit Antennen.
Es war zwei Minuten vor zwölf.
Ohne sich zu bewegen sah sie sich um.
Sie würde wohl zur Tür hinauskommen, aber dann müsste sie ihr Gepäck zurücklassen.
Es sah gefährlich aus, wie er dastand. Wenn er das Gleichgewicht verlor, würde er geradewegs durchs Zifferblatt
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