Die Flüchtende
hinausstürzen.
Die Sekunden vergingen. Die längere der Antennen Jesu sprang einen Schritt weiter.
Sie wagte kaum zu atmen, um sich nicht zu verraten.
Schließlich nahm er die Arme herunter und ließ sie hängen. Im nächsten Moment drehte er sich um und entdeckte sie.
Sie sah, dass er Angst bekam. Angst bekam und ein wenig verlegen wurde, weil ihn jemand beobachtet hatte.
Keiner sagte etwas, aber sie ließen sich nicht aus den Augen. Sie konnte sein Gesicht nicht richtig erkennen, das Gegenlicht verwischte seine Gesichtszüge.
Wie um alles in der Welt sollte sie hier herauskommen? Er machte keinen besonders kräftigen Eindruck und er durfte unter keinen Umständen den Dachboden verlassen, ohne dass sie mit ihm hatte reden können. Sie setzte sich langsam auf. Wenn sie aufstünde, würde sie vielleicht bedrohlich wirken.
«Was machst du denn?», fragte sie vorsichtig.
Er antwortete nicht sofort, aber sie merkte, dass seine Abwehr eine Spur schwächer wurde.
«Nichts Besonderes.»
«Ach, tatsächlich? Das hat von hier aus aber ziemlich gefährlich ausgesehen.»
Er zuckte die Schultern.
«Und du. Was machst du hier?»
Ja. Was mache ich hier?
«Ich habe mich ein bisschen ausgeruht.»
Das stimmte auf jeden Fall.
«Bist du 'ne Pennerin oder was?»
Sie lächelte verhalten. Hier ging es direkt zur Sache. Normalerweise versuchten die Leute das Elend zu beschönigen.
«Im Moment penne ich ja nicht.»
«Ja schon, ich meine, so 'ne Obdachlose. Die keine Wohnung hat.»
Warum sollte sie es leugnen? Es gab keine andere hieb- und stichfeste Erklärung für ihre Anwesenheit.
«Ja. Gut möglich.»
Er stieg von dem Podest herunter.
« Cool. Das werde ich auch, wenn ich mit der Schule fertig bin.»
Sie sah ihn an.
«Warum denn?»
«Ist doch wohl echt scharf. Niemand will was von einem oder sagt einem, was man zu tun hat.»
Ja. So konnte man das natürlich auch sehen.
«Wenn du von so was träumst, gibt es sicherlich bessere Möglichkeiten, auf die du setzen kannst.»
«Meinst du», sagte er und grinste.
Sie war sich immer noch nicht ganz sicher, ob er sie auf den Arm nahm.
« Bist du auch ein Junkie?»
«Nein.»
«Ich dachte, Obdachlose seien alle Junkies. Ist man denn nicht deswegen obdachlos? Meine Mutter behauptet das.»
«Mütter wissen nicht alles.»
«Nein. Ich weiß.»
Er schnaubte, als er dies sagte, und sie konnte sehen, dass er keine Angst mehr hatte. Er kam jetzt zu ihr her und sie stand auf.
«Ist das alles, was du hast?»
«Ja. Das kann man wohl sagen.»
Sein Blick schweifte über die Isomatte und den Rucksack, und sie folgte seinem Blick. Der Junge wirkte nahezu beeindruckt.
«Obercool.»
Es war ein eigenartiges Erlebnis, ausnahmsweise einmal als Vorbild betrachtet zu werden, aber nun hatten sie genug über sie geredet.
«Was treibst du denn hier oben? Weißt du nicht, dass der Fußboden einbrechen kann?»
«Ja, Hilfe, wie gefährlich!»
Um zu veranschaulichen, wie wenig ihn das kratzte, hüpfte er ein paar Mal. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm.
«Hör auf. Wäre doch unerfreulich, wenn du durchkrachen würdest.»
«Ach was!»
Er zog seinen Arm zurück, hörte aber auf zu hüpfen. Sie sah ihn eine Weile schweigend an. Sein plötzliches Auftauchen in ihrem Versteck war eine Bedrohung. Die Frage war nur, wie ernst diese war? Bevor er ging, musste sie das herausfinden. Sie hob eine zerknitterte Blaumatrize vom Fußboden auf, um ihre Frage weniger dringlich erscheinen zu lassen.
«Kommt ihr oft hier rauf?»
Er zögerte ein bisschen zu lange, bevor er antwortete.
«Manchmal.»
Er log, aber sie konnte nicht genau sagen, warum.
«In welche Klasse gehst du?»
«In die achte.»
« Und wo sind die anderen ? Kommen die auch hier rauf?»
Er schüttelte den Kopf. Da fiel der Groschen. Es war nur er. Nur er kam oft hierher. Sonst niemand.
« Dann warst das also du, der die Schrauben am Schloss präpariert hat?»
Er holte Luft und antwortete gleichzeitig:
«Juup.»
Sie verstand. Auch einer aus der Spreu. Einer, den die homogene Masse bereits ausgesondert hatte.
«Gefällt es dir denn hier? Macht die Schule Spaß?»
Er sah sie an, als ob sie nicht ganz richtig im Kopf wäre.
«Ja. Mordsspaß.»
Gegenteilsprache. Die war ihr schon früher begegnet. Alle Jugendlichen schienen sich heutzutage so auszudrücken. Jedenfalls die wenigen, mit denen sie gesprochen hatte.
Er kickte ein Buch, das vor seinem Fuß lag, beiseite. Es prallte gegen ihre Isomatte und blieb liegen.
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