Die Flüchtende
Moment begegnetensich ihre Blicke, und diesmal war es ihre Mutter, die ihren Blick zuerst abwandte.
Sibylla hatte jedoch klar und deutlich erfassen können, was dahinter gerade vor sich ging. Da war der reine, schiere Zorn darüber, dass ihre Tochter sie in diese peinliche Situation gebracht hatte. Und dass sie nichts dagegen tun konnte.
Sibylla sah wieder auf ihre Hände hinab.
Es klopfte an der Tür, und der Mann, der sie zum Sprechen bringen wollte, kam wieder herein. Er hielt eine braune Mappe in der Hand und stellte sich ans Fußende des Bettes.
«Sibylla. Da ist etwas, worüber deine Mutter und ich mit dir sprechen wollen.»
Er suchte den Blick ihrer Mutter, aber sie hatte ihn auf den Boden geheftet. Ihre Knöchel wurden ganz weiß, als sie die Hände um die Handtasche presste.
« Kann es sein, dass du einen Freund hast?»
Sibylla starrte ihn an. Er wiederholte seine Frage.
« Hast du einen Freund?»
Sie schüttelte den Kopf. Er machte ein paar Schritte und setzte sich zu ihr auf die Bettkante.
«Du musst wissen, dass diese Krankheit, die du hast, auch physische Ursachen haben kann.»
Aha.
«Wir haben ein paar Tests gemacht.»
Ja, das wusste sie.
«Und es hat sich herausgestellt: Du bist schwanger.»
Das letzte Wort hallte wie ein Echo in ihrem Kopf. Das Einzige, was sie vor sich sah, war die braun karierte Decke.
Auserwählt.
Nur sein. Nur ihr.
Zusammen.
Alles für eine Sekunde dieser Nähe.
Alles.
Sie sah ihre Mutter an. Die wusste es schon.
Der Mann, der sie zum Sprechen bringen wollte, legte seine Hand auf die ihre. Diese Berührung durchfuhr sie wie ein Schlag.
«Weißt du, wer der Vater des Kindes ist?»
Sie beide vereint. Zusammengekettet. Für immer.
Sibylla schüttelte den Kopf. Ihre Mutter sah zur Tür. Ihr ganzes Wesen sehnte sich nach draußen. Weg von hier.
«Du bist bereits in der siebenundzwanzigsten Woche, es gibt also keine andere Möglichkeit, als das Kind auszutragen.»
Sibylla legte die Hände auf ihren Bauch. Der Mann, der sie zum Sprechen bringen wollte, lächelte sie an, aber er sah nicht froh aus dabei.
«Wie fühlst du dich?»
Sie sah ihn an. Wie fühlst du dich?
«Deine Mutter und ich haben die Sache durchgesprochen.»
Sie sah ihre Mutter an. Deren Lippen waren ganz weiß geworden.
«Wir glauben, dass es das Beste für dich wäre, wenn wir schon jetzt entschieden, was wir tun wollen.»
Im Zimmer nebenan fing jemand zu schreien an.
«Weil du noch nicht mündig bist und deine Eltern dich am besten kennen, wiegen deren Ansichten schwer in dieser Angelegenheit. Und weil ich dein Arzt bin, denke ich, dass ihre Entscheidung ganz richtig ist.»
Sie starrte ihn an. Was für eine Entscheidung denn? Über ihren Körper konnten sie doch wohl nicht bestimmen?
«Wir denken, es ist für alle das Beste, wenn du das Kind zur Adoption freigibst.» Bei Seven Eleven einzukaufen war ein Luxus, den sie sich nur selten gönnte. Die Preise lagen weit über dem Durchschnitt, aber im Moment galten die üblichen Regeln nicht. Sie brauchte etwas zu essen, damit sie ein paar Tage von der Bildfläche verschwinden konnte, und sie brauchte es so früh wie möglich, damit sie bereit war, sobald die Türen der Sofienschule geöffnet wurden. Bevor die Flure sich mit Schülerinnen und Schülern und neugierigen Lehrkräften füllten.
Kurz nach sieben wartete sie mit weißen Bohnen, Bananen, Joghurt und Knäckebrot eingedeckt darauf, dass der Hausmeister oder eine andere befugte Person die Pforte zur Glückseligkeit aufschließen würde.
Hier würde sie ihre Ruhe haben.
Um zwanzig nach sah sie von ihrem Aussichtsposten aus, dass die befugte Person ihre Pflicht tat, und sobald sie verschwunden war, überquerte Sibylla die Straße und ging zur Tür hinein. Alle Treppen hinauf und in den Flur. Sie begegnete niemandem unterwegs, aber wie in allen alten Steingebäuden hallten die Geräusche von anderen Stellen im Haus von den Wänden wider.
Die Tür zum Dachboden war noch am selben Platz wie früher. Zutritt für Unbefugte verboten. Unter dem Schild hatte irgendeine verantwortungsvolle Person ein handgeschriebenes Extraschild angebracht, das vor der Schadhaftigkeit des Fußbodens warnte und darauf hinwies, dass Einsturzgefahr bestehe.
Konnte es besser kommen?
Die Tür war mit einem gewöhnlichen Vorlegeschloss verschlossen, und jetzt hätte sie ihr Taschenmesser gebraucht. Das lag im Moment wahrscheinlich als Beweismaterial auf irgendeiner Polizeidienststelle. Sie seufzte. Die Öse
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