Die Flüchtende
Mathematik, Kurs 3.
«Kriegst du Sozialhilfe oder so was?»
Sie schüttelte den Kopf. Er hatte sich über seine künftigen Rechte als Obdachloser anscheinend schon schlau gemacht.
«Was isst du denn? Sag bloß nicht, dass du dich aus Mülltonnen und so ernährst.»
Er sah angeekelt drein.
« Das ist auch schon vorgekommen.»
«Igitt, wie eklig.»
« Das wirst du auch noch zu schmecken bekommen, wenn du auf eine solche Zukunft setzt.»
«Man kann doch Stütze kriegen. Für Fressalien und so.»
Sie vermochte nicht zu antworten. Sie hätte ihm sagen können, dass es dann weiterhin Leute gäbe, die sagten, was er zu tun und zu lassen habe.
Die Schulglocke läutete. Er schien sie nicht zu hören.
« Obwohl, ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich lieber einen Job beim Fernsehen anpeilen?»
«Fängst du jetzt nicht an?»
Er zuckte die Schultern.
«Schon.»
Er seufzte und machte ein paar Schritte auf den Ausgang zu. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob er sie nun verraten würde oder nicht. Allmählich eilte es und ihr wurde klar, dass es das Einfachste wäre, ihn zu fragen.
«Wirst du was sagen?»«Worüber?»
«Über mich. Dass ich ein Weilchen hier schlafe.» Auf diesen Gedanken war er offensichtlich noch gar nicht gekommen.
«Warum sollte ich?» «Weiß nicht.»
Er stieg die paar Treppenstufen hinunter. «Wie heißt du?» Er wandte sich zu ihr um. «Lapsus. Und du?»
«Sylla. Hast du dir diesen Spitznamen selbst ausgedacht?» Er zuckte die Schultern. «Weiß ich nicht mehr.» Er hatte die Hand auf die Klinke gelegt. « Und wie heißt du wirklich?» «Mann, sind wir hier beim Quiz oder was?» Sie machte eine ausholende Handbewegung. Sie hatte keine Ahnung, was er meinte. «Ich habe ja nur gefragt.»
Er seufzte und ließ die Klinke los, drehte sich um und sah sie
an.
«Patrik. Patrik heiße ich.»
Sie lächelte ihn an, und nach kurzem Zögern erwiderte er das Lächeln. Er drehte sich um und legte erneut die Hand auf die Klinke.
«Na denn.»
«Tschüs, Patrik. Vielleicht sehen wir uns nochmal?» Im nächsten Moment war er weg.
.
Na klar. Natürlich war sie wieder zurückgebracht worden
Nur wenige Stunden nach dem Gemüsezwischenfall hatte draußen auf dem Kiesweg ein Auto gehalten. Eine Minute darauf hörte sie die Türglocke.
Als Beatrice Forsenström öffnete, saß Sibylla mit ihrer gepackten Tasche bereits auf der obersten Treppenstufe.
Niemand beachtete sie.
«Vielen Dank, dass Sie so schnell gekommen sind.»
Ihre Mutter hielt die Tür auf, damit sie eintreten konnten. Der Jüngere der beiden sah sich in der prächtigen Diele um. Er war sichtlich beeindruckt. So als ob er sich wunderte, wie man in einem solchen Haus geisteskrank werden konnte.
Ihre Mutter zerstreute rasch alle Zweifel.
«Ich werde einfach nicht mehr fertig mit ihr. Sie ist völlig unmöglich.»
Der andere Mann nickte ernsthaft.
«Können Sie beurteilen, ob sie wieder psychotisch geworden ist?»
«Ich weiß nicht. Sie bricht in Anklagen aus, und dabei weiß ich, dass sie sich nicht aufregen darf, aber ...»
Ihre Mutter legte die Hand vor die Augen. Sibylla hörte die Tür zum Arbeitszimmer aufgehen, und noch ehe ihr Vater unten am Treppengeländer auftauchte, konnte sie seine Hausschuhe über den Steinfußboden patschen hören. Er ging auf die Männer zu und reichte ihnen die Hand.
« Henry Forsenström.»
«Hakan Holmgren. Wir kommen, um Sibylla abzuholen.»
Ihr Vater nickte.
«Ja», seufzte er. «Das ist wohl am besten so.»
Sibylla stand auf und ging die Treppe hinunter.
«Ich habe gepackt und bin so weit.»
Aller Blicke richteten sich auf sie. Ihre Mutter trat einen Schritt näher zu ihrem Gatten, der beschützend seinen Arm umsie legte. Womöglich hatten sie Angst, ihre Tochter könnte einen Anfall bekommen. Als sie unten war, teilte sich das Grüppchen, um sie durchzulassen. Draußen auf der Treppe blieb sie stehen und drehte sich um. Keiner der Männer hatte sich gerührt.
«Warten wir auf was Besonderes?»
Der mit Namen Hakan Holmgren folgte ihr.
«Nein, wir fahren jetzt. Hast du alles gepackt, was du brauchst?»
Sibylla antwortete nicht. Sie kehrte ihnen den Rücken zu und ging zu dem Auto, das unten an der Treppe geparkt war. Wortlos öffnete sie die Tür und setzte sich auf den Rücksitz.
Es dauerte etwas, bis sie Gesellschaft bekam. Sie mussten wohl erst einen neuen Lagebericht entgegennehmen, bevor sie sich auf den Weg machten.
Sie sah sie keinmal mehr an.
Mochten sie doch dort auf
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