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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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du den Jäger?« sagte Captain Dekobra zu Alonso Carnero. »Das ist Orion.« Der große himmlische Mann war leicht nach vorne gebogen. »Er ist auf der Jagd, er späht. Aber er ist vorsichtig, denn er ist blind. Siehst du diesen hellen, strahlenden Stern dort zu seinen Füßen, vor ihm? Das ist Sirius, sein Hund. Wenn du hier durchschaust, kannst du sehen, wie er atmet.«
    Der Junge nahm das schwere Fernglas und schaute lange schweigend hindurch.
    »Jetzt gehst du nach oben, an seinem Gürtel entlang, Alnilam, Alnitak, Mintaka« – er sprach die Worte wie eine Beschwörung – »dann kommst du zu seiner rechten Schulter, Ibt Al Jakrah, die Achsel, das ist Betelgeuse, vierhundertmal so groß wie die Sonne …«
    Alonso Carnero ließ das Fernglas sinken und sah Dekobra an. Da war es wieder: Die dunklen Augen starrten in die eisblauen, zwei Formen des Sehens, die sich ineinanderbohrten, keine Gesichter mehr, nur noch Augen, für den Bruchteil einer Sekunde, und dann floß die Form ihres Gesichts in der nächtlichen Luft wieder zurück. Die anderen sahen es nicht oder sagten nichts. Auch ich sagte nichts. Vierhundertmal so groß wie die Sonne, das hatte Maria Zeinstra mir auch erzählt, ich hatte meine Unschuld bereits verloren. Sie wußte alles, was ich nicht wissen wollte. Mit diesen Schnapsgläsern, durch die ich auf die Welt schauen mußte, war ich sowieso nicht mit dem nächtlichen Himmel vertraut, doch den Jäger konnte ich auch so erkennen, ich wußte, wie er zum Ende der Nacht hin auf die noch schlafende Welt klettert, für mich war er der Verbannte aus dem neunten Buch der Odyssee , der Geliebte der rosenfingrigen Morgenröte, ich wollte nicht wissen, wie heiß oder wie alt seine Sterne waren und wie weit entfernt er war.
    »Dann bleib eben dumm.«
    Ich höre ihre Stimme neben mir, aber sie ist nicht da.
    »Was hast du davon, die Welt so zu kennen, wie du sie kennst?« hatte ich gefragt. »Diese lächerlichen Zahlen, die uns mit ihren Nullen erschlagen?«
    Erstaunen. Kopf schief. Rotes Haar hängt wie eine Fahne zur Seite, Orion ist im Tageslicht schon fast erloschen. Wir haben noch nicht geschlafen.
    »Wie meinst du das?«
    »Zellen, Enzyme, Lichtjahre, Hormone. Hinter allem, was ich sehe, siehst du immer etwas anderes.«
    »Weil es da ist.«
    »Na und?«
    »Ich will hier nicht blind auf der Erde herumlaufen, das eine Mal, das ich hier bin.«
    Sie stand auf. »Und jetzt muß ich nach Hause für den Besuch des großen Jägers. Ich dachte, Italiener passen besser auf ihre Kinder auf.«
    »Sie ist kein Kind.«
    »Nein.« Es klang bitter. »Das haben sie alle gut hingekriegt.« Stille. »Ich muß gehen«, sagte sie dann. »Der Herr ist auch noch eifersüchtig.«
    Ob ich eifersüchtig sei, fragte sie nicht.
    »Castor und Pollux«, hörte ich den Captain sagen. Wirklich, es schien, als wollte mich jeder in meine Vergangenheit zurückholen. Die Schultafel des Himmels war mit Latein beschrieben, und ich war kein Lehrer mehr. »Orion, Taurus, dann hoch zu Perseus, Auriga …« Ich folgte der Hand, die zu den Bildern deutete, die jetzt, wie wir, sanft zu schwanken schienen. Irgendwann einmal, sagte der Captain, würden diese Bilder aufgelöst werden, zerpflückt, über den künftigen Himmel verstreut. Was sie zusammengehalten hatte, war unser zufälliges Auge in den letzten paar Jahrtausenden, das, was wir in ihnen hatten sehen wollen. Sie gehörten genausowenig zueinander wie Spaziergänger auf den Champs-Élysées, diese Konstellationen waren Momentaufnahmen, nur dauerten diese Momente für unsere Begriffe reichlich lang. Nach wiederum einigen tausend Jahren würde der Große Bär sich aufgelöst haben, würde der Schütze nicht länger schießen, ihre Einzelsterne würden eigene Wege verfolgen, ihre trägen Bewegungen würden die Bilder, wie wir sie kannten, zum Verschwinden bringen, Boötes würde den Bären nicht mehr bewachen, Perseus würde nie mehr Andromeda von ihrem Felsen befreien, Andromeda würde ihre Mutter Kassiopeia nicht mehr erkennen. Natürlich würden neue, ebenso zufällige Konstellationen (ja, von stella gleich Stern, ich weiß, Captain) entstehen, doch wer würde ihnen Namen geben? Die Mythologie, die mein Leben beherrscht hatte, würde dann unwiderruflich ungültig sein, das war sie schon jetzt, für die Welt wurde sie eigentlich nur noch durch diese Konstellationen am Leben erhalten. Namen entstehen nur, wenn etwas noch lebt. Weil dieses Sternbild noch da war, wurden die Menschen gezwungen,

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