Die folgende Geschichte
was nicht zu zählen ist, und plötzlich hatte ich in ihren Augen die Enttäuschung gesehen, den Augenblick, in dem der Schüler merkt, daß der Lehrer um das Rätsel herumredet und selbst keine Antwort weiß. Ich dozierte noch eine Weile weiter über Stunde und Dauer, doch meine Ohnmacht hatte ich bereits verraten. Als sie wegging, eine Frau, wußte ich, daß ich ein Kind enttäuscht hatte, und auch das gehört zu meinem Beruf, Minderjährige zu verderben. Mit dem Abbröckeln der eigenen Autorität verweist man sie in eine Welt ohne Antworten. Es ist nicht schön, Menschen erwachsen zu machen, vor allem nicht, wenn sie noch glänzen. Aber ich bin schon so lange kein Lehrer mehr.
Der Priester ging an der Reling entlang. Dem Anschein nach war er fast schwerelos, schwebte ein wenig durch die Bewegung des Schiffs. Dom Antonio Fermi, so hatte er sich vorgestellt, und als ich leicht überrascht aufschaute bei diesem DOM, hatte er gesagt, Dominus , vom Orden der Benediktiner. Fermi, Harris, Deng, Mussert, Carnero, Dekobra, diese Wörter waren unsere Namen. Wir hatten einander Bruchstücke unseres Lebens serviert und fuhren jetzt alle mit diesen fremden, noch nicht verdauten Brocken über das Meer. Es hätten auch andere Leben sein können, andere Formen des Zufalls. Wenn man nicht alleine reist, ist man auf jeder Reise mit Fremden zusammen.
»Ich sah Sie Selbstgespräche führen«, sagte er.
Noch einmal, nun aber laut, sprach ich den letzten Vers der sechsten Ode, diesen Luxus ließ ich mir nicht entgehen, ich begegne nicht jeden Tag jemandem, für den Latein noch eine lebende Sprache ist. Bei der zweiten Zeile fiel er mit seiner dünnen Altmännerstimme ein, zwei römische Reiher auf See.
»Ich wußte nicht, daß Benediktiner Horaz lesen.«
Er lachte. »Man ist immer erst etwas anderes, bevor man Benediktiner wird«, und tanzte davon. Jetzt wußte ich wieder etwas mehr über ihn, doch was sollte ich mit all diesen Informationen? War dies nicht eine Reise, die ich allein hätte machen sollen? Was hatte ich mit ihnen, was hatten sie mit mir gemein? »Ich hatte wohl tausend Leben und nahm nur eines«, hatte ich einmal in einem Gedicht gelesen. Sollte das in diesem Fall heißen, daß ich ihre Leben auch hätte haben können? Ich hatte natürlich genausowenig den Beschluß gefaßt, im zwanzigsten Jahrhundert in den Niederlanden geboren zu werden, wie Professor Deng sich für China entschieden hatte. Die Chance für Pater Fermi, als Katholik zur Welt zu kommen, war in Italien natürlich größer gewesen als anderswo, aber Italien an sich oder das zwanzigste Jahrhundert anstatt des dritten oder des dreiundfünfzigsten, das unterlag natürlich wieder den Gesetzen des Zufalls. Unerträglich. Man existierte bereits zu einem großen Teil, bevor man selbst zum Zuge kam. Alonso Carnero konnte nichts dafür, daß seine Großmutter im Spanischen Bürgerkrieg von den Faschisten erschossen worden war, und so konnten wir damit fortfahren, uns gegenseitig den Spiegel unserer exemplarischen Zufälligkeit vorzuhalten. Wenn ich »ich« zur Person von Peter Harris hätte sagen müssen, so wäre ich nicht nur ein Trunkenbold und Frauenheld gewesen, sondern auch ein Fachmann für die Verschuldung der Dritten Welt, und wenn ich Captain Dekobra gewesen wäre, hätte ich nicht nur einen kerzengeraden Körper besessen und bohrende eisblaue Augen, sondern dann hätte ich auch unzählige Male in einer DC-8 ebendiesen Ozean überquert, über den ich jetzt in der metallenen Hülle dieses namenlosen Schiffes kroch. Wenn ich mich in ihre Leben vertiefen würde, brauchte ich ein Leben, so lang wie das ihre, dafür, und weil das nicht möglich war, blieb man mit unsinnigen Bruchstücken sitzen, faits divers.
Professor Deng hatte einst über den Vergleich zwischen westlicher und chinesischer Astronomie der Frühzeit promoviert. Phantastisch. Harris mochte keine blonden Frauen und lebte daher in Bangkok. Herzlichen Glückwunsch. Er reiste als Journalist durch die Dritte Welt. »Ihre Schulden – mein Brot.« Zweifellos. Und Pater Fermi war einst schlichtweg ein Laienpriester am Mailänder Dom gewesen. »Kennen Sie den Dom?« Und ob. Ich hätte ihm gern Dr. Strabo’s seelenlosen Reiseführer für Norditalien geschenkt, in dem es mir gelungen war, aus diesem lyrischen, steinernen Mastodonten eine Art Woolworth zu machen, durch das man die Touristen jagen konnte.
»Dieses Bauwerk bedeutete für mich die Hölle.« Starke Worte für einen Priester.
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